Sybille richtete im Kopf schon ihren Hofladen ein, machte eine Checkliste, was sie alles besorgen und erfragen musste. Seit Langem hatte sie das Gefühl, dass es wieder bergauf ging.
„Hofladen? Wie cool ist das denn!“ Alexanders Stimme schnarrte begeistert aus dem alten, orangefarbenen Telefon mit Wählscheibe. „Obst und Gemüse aus dem Garten zu verkaufen. Aus der Region, der umliegenden Nachbarschaft, liegt total im Bio-Trend. Das ist wirklich eine coole Idee!“
„Ja, ich muss erst mal sehen, ob ich die ganzen Genehmigungen und Bescheinigungen bekomme. Tante Hilde sieht das etwas zu sportlich, fürchte ich.“
„Wie geht es ihr denn so? Ist schon lange her, dass ich mit ihr gesprochen habe.“
„Ich weiß nicht. Sie ist sehr gealtert. Irgendetwas ist da, was sie mir noch sagen will, das spüre ich. Ich glaube, es geht ihr nicht so gut. Sie freut sich so, dass ich hier bin. Tante Hilde verwöhnt mich, wo sie nur kann. Ich fühle mich gleich um Jahre verjüngt. Es ist so wie früher, als ich in den Ferien bei ihr war. Sie ist immer noch so voller Tatendrang, aber irgendetwas ist da. Ich muss ihr in den nächsten Tagen mal auf den Zahn fühlen.“
„Tatendrang! Das ist ein gutes Stichwort. Sag mal, was ist denn mit Papa los? Spinnt der denn jetzt total?“
„Das fragst du ihn am besten selber. Ich mische mich da nicht ein.“
„Also, die Tussi ist ja fast so alt wie ich!“
„Sieh es mal so: Nun bekommst du eine große Schwester.“
„Ähhh, darauf kann ich gut und gern verzichten. Das ist total ekelig und peinlich.“
„Früher oder später wird er aus seiner geistigen Umnachtung aufwachen. Das ist nur eine Phase!“
„Na, ich weiß nicht. Anfreunden werde ich mich mit der jedenfalls nicht.“
„Das braucht du ja auch nicht.“
„Ich finde es total blöd, was Papa da abzieht. Ihr wart doch immer so glücklich!“
„Das, Alexander, habe ich auch gedacht. Aber in den letzten Wochen hatte ich jede Menge Zeit, darüber nachzudenken. Ich glaube, ich war schon lange nicht mehr wirklich glücklich. Vieles war Gewohnheit. Ich habe es als gegeben hingenommen. Das ist mir jetzt klar geworden.“
„Na, das nenne ich mal konsequent! Du, was hältst du davon, wenn ich für deinen Hofladen einen Onlineshop einrichte?“
„Meinst du, ich könnte damit umgehen?“
„Klar! Mann, ich habe vielleicht eine coole Mama.“
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Beim Abendbrot schob Hilde ihrer Nichte eine Theaterkarte zu. „Hier, mein Kind.“
Verdutzt sah Sybille ihre Tante an, als würde sie fragen: Was ist das?
„Mein Theater-Abo! Da komme ich sowieso nicht mehr hin.“
„Tante Hilde, ich glaube nicht, dass ich …“
„Doch! Und ob du wirst. Keine Widerrede. Es nutzt gar nichts, wenn du dich hier im Haus verkriechst. Da draußen ist das Leben, also gehe raus und lebe!“
„Ach, ich weiß nicht!“ Sybille gingen tausend Dinge durch den Kopf. „Ich weiß gar nicht, was ich anziehen soll. Und überhaupt, ich glaube, es ist noch zu früh. Und … und …“
„Du hast ja noch bis Mittwoch Zeit, dir etwas Passendes aus dem Schrank zu suchen.“
„Ja, aber …“
„Kein Aber, Sybille! Du musst doch unter die Leute. Schließlich bist du noch jung. Hier versauerst du noch und wirst so eine mürrische Eigenbrötlerin wie meine Nachbarin Edda Schulz.“
„Na, danke schön! So schlimm wird es bei mir sicherlich nicht kommen.“
„Dann solltest du etwas dagegen unternehmen. Und zwar rechtzeitig. Hier …“ Sie schob die Karte mit Nachdruck näher zu Sybille. „Es wäre doch schade, wenn die Karte verfallen würde. Es ist eine Operette, die magst du doch so gern.“
Sybille lächelte in sich hinein. Sie erinnerte sich wieder an die Ferien bei ihrer Tante. Da waren sie auch regelmäßig ins Theater gegangen. Besonders die Operetten hatten es ihr angetan.
Bis es aber soweit war, dass Sybille im Bus Richtung Theater saß, durchlitt sie mehrere Höllenqualen.
Die Kleiderauswahl stellte eine unmenschliche Hürde dar. Letztendlich entschied sie sich für ihren dunkelblauen Hosenanzug und eine schlichte, weiße Bluse. Eine Haartönung wurde in der Drogerie gekauft und ihre Haarfarbe damit aufgepeppt, dann brachte sie ihre Haare mit Lockenwicklern in Form. Die Seiten wurden aus ihrem Gesicht gekämmt und mit Hilfe einer Klemme hinter den Ohren festgesteckt.
Bei ihrem Make-up wurde ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. Der Lidstrich wollte einfach nicht sitzen. Die feine Haut am Auge war schon vom vielen Wischen ganz rot und empfindlich geworden. Der Höhepunkt war, als sie sich das Bürstchen von ihrem Mascara ins Auge piekte. Die schwarze Flüssigkeit brannte wie Feuer.
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Am Nachmittag war noch ein Brief von ihrem Anwalt gekommen. Danach musste sich Sybille erst einmal setzen und von Tante Hildes selbstgebranntem Obstschnaps einen gehörigen Schluck nehmen. Das Schreiben von der Kanzlei Stövner hatte es in sich.
Immer wieder las sie die niederschmetternde Nachricht, dass Michaels Anwalt mit ihrem Kontakt aufgenommen hatte und ihr nun mitteilte, dass Michael und sie einen Ehevertrag hatten. In diesem Vertrag war geregelt, dass sie bei einer Trennung keinerlei Ansprüche an Michael hatte. Selbst vom gemeinsamen Haus wäre nach einem Verkauf nichts zu erwarten, da ihr Ehemann allein im Grundbuch stünde.
Sybille hätte es nicht geglaubt, eher für einen makabreren Spaß gehalten, wenn sie nicht eine Kopie dieses Ehevertrags mit ihrer Unterschrift als Mitschrift in den Händen gehalten hätte.
Sie überlegte hin und her, konnte sich aber nicht erinnern, dass je von einem Ehevertrag gesprochen worden war. Vor der Hochzeit hatte sie tatsächlich etwas unterschrieben, aber Michael hatte es ihr nur zur Unterschrift vorgelegt und damals gesagt, dass es wegen der Steuerklassen war, um die er sich hatte kümmern wollen. Damals hatte Sybille im siebten Himmel geschwebt und war mit den Hochzeitsvorbereitungen voll beschäftigt gewesen. Daher war sie froh gewesen, dass Michael ihr den lästigen Papierkram abgenommen hatte, von dem sie sowieso nichts verstand. Sie hatte ihm voll und ganz vertraut. Ein schwerwiegender Fehler, wie sich jetzt herausstellte.
„Tante Hilde, was soll denn jetzt aus mir werden? Wovon soll ich leben? Kein Unterhalt, kein Arbeitslosengeld, keine Rente, kein Job! Ich bin mittellos.“
„Mach dir um Geld keine Sorgen, mein Kind. Ich habe Geld genug für uns beide! Wohnen kannst du hier umsonst. Außerdem wolltest du doch den Hofladen aufmachen. Du brauchst Michael und sein Geld nicht, um glücklich zu sein. Außerdem habe ich noch ein paar Ideen, um Geld zu verdienen. Du kümmerst dich jetzt erst mal um dich selbst. Heute Abend gehst du, wie geplant, ins Theater und lässt dich verzaubern.“
„Nein, auf gar keinen Fall! Ich kann heute Abend unmöglich ausgehen.“
„Warum nicht? Ändert das irgendetwas an deiner jetzigen Lage?“
„Nein.“
„Na also. Du musst auf andere Gedanken kommen. Grämen kannst du dich morgen noch genug.“
„Außerdem merke ich doch, dass es dir heute nicht besonders gut geht. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Das merke ich.“
„Das lass mal meine Sorge sein!“
„Aber …“
„Kein Aber! Du gehst jetzt nach oben und machst dich fertig.“
„Ich kann doch nicht einfach weggehen, wenn es dir nicht gut geht.“
„Doch, du kannst. Und du wirst. Basta!“
An diesem Punkt war mit Hilde nicht mehr zu verhandeln. Ihre Tante schien in den vergangenen Jahren älter und zerbrechlicher geworden zu sein, aber ihre Autorität hatte sie nicht verloren. Im Gegenteil, sie schien selbstbewusster denn je zu sein.
Leise seufzend stand Sybille auf und ging nach oben. Sie hatte keine Kraft und auch nicht den Willen, gegen ihre Tante aufzubegehren.
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