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Mit einem schlechten Gewissen war sie aus dem Haus gegangen, doch jetzt im Bus kam Vorfreude auf.
Ach ,was soll’s , dachte sie sich, der Herr denkt und Tante Hilde lenkt. Bei diesem Gedanken musste sie tatsächlich schmunzeln. Diese kleine, resolute Frau mit ihrem eisernen Willen und einer Tatenkraft, die für zwei reichte. Sybille nahm sich vor, sich eine Scheibe von ihr abzuschneiden, und fasste den Entschluss, am nächsten Tag mit ihr über ihren Zustand zu sprechen. So ging das nicht mehr weiter.
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Das Staatstheater im neubarocken Stil war schon vom weiten zu erkennen. Die hohen Säulen auf dem Bogengang des weißen Gebäudes wurden von Strahlern in der Dunkelheit erhellt. Für einige Schauspieler war diese Spielstätte ein Karriere-Sprungbrett gewesen und sie hatten danach ein Engagement in Fernsehserien wie Tatort oder Lindenstraße erhalten. Sogar der Sohn des ehemaligen Politikers und Bundeskanzlers Willi Brand hatte einst zum Ensemble gezählt.
Am Eingang zum Saal kaufte sich Sybille ein Programmheft und nahm auf ihrem Platz im Parkett in der fünften Reihe – einem mit rotem Samt überzogenen Sitz mit der Nummer zwölf – Platz.
An der Decke verbreitete der imposante Kronleuchter, umarmt von Deckenmalerei und Barock-Putten, ein malerisches Licht. Die Musiker des Orchesters spielten sich warm, der schwere, rote Vorhang bewegte sich gelegentlich, wenn die Schauspieler durch das versteckte Guckloch in den Zuschauerraum spähten. Das Gemurmel der Zuschauer nahm zu. Sybille vertiefte sich in ihr Programmheft. Sie freute sich auf die Darbietung des Vogelhändlers.
Als der Gong ertönte, riss sich Sybille von ihrem Lesematerial los. Der Innenraum des Theaters war jetzt voll besetzt bis auf den rechten Platz neben ihr. Das Licht wurde gedimmt. Ein Spot leuchtete auf den Dirigenten, der sich verbeugte. Das Publikum applaudierte brav. Die ersten Klänge der schwungvollen Ouvertüre schwollen an. Als die Walzerklänge erklangen, gab es ein verärgertes Gemurmel am anderen Ende ihrer Reihe. Ein leises „Entschuldigung, Entschuldigung“ war zuhören. Neben Sybille setzte sich der Zuspätkommer umständlich auf seinen Platz. Wegen dem mangelnden Platz fiel ihm sein Programmheft auf den Boden und flatterte Sybille zwischen die Füße.
Der Unbekannte neigte sich schräg nach vorn. Ein unwiderstehlicher, männlicher Duft, geprägt von einer Patchouli-Note, wehte in Sybilles Nase.
„Pardon.“ Die dröhnende, tiefe Stimme verursachte eine Gänsehaut auf Sybilles Haut. Darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Kam es vom berauschenden Duft, der sonoren Stimme oder dem einsetzenden Gesang des Chors? Sie konnte es nicht sagen.
Der geheimnisvolle Mann neben ihr, der fast auf ihrem Schoß lag und nach seinem Programmheft angelte, griff versehentlich nach ihrem Fuß.
„Aaah“, stieß sie vor Schreck hervor und hob ihr Bein reflexartig hoch.
„Oh, Entschuldigung“ Sybilles Knie traf den Unbekannten zielsicher unters Kinn. „Autsch.“
„Pscht!“, kam es von mehreren Seiten.
„Lassen Sie das, Sie komischer Vogel!“ Mit ihrem Programmheft schlug sie ihm auf den Kopf.
„Entschuldigung, mein Heft … Ich wollte nicht …“ Und wieder richteten sich die kleinen Härchen auf ihrem Arm auf.
„Pscht!“, kam es wieder aus einer der vorderen Reihen.
Sybille beugte sich nach vorn, fingerte nach dem Heft zwischen ihren Füßen und gab es verärgert ihrem Sitznachbarn. Im Dunkeln des Zuschauerraums konnte man zum Glück nicht ihr Schnütchen sehen.
„Oh, danke!“
„Pschscht!“
Sybille versuchte, sich jetzt dem Schauspiel auf der Bühne zu widmen. Es war eine sehr moderne Inszenierung und nicht das, was sie erwartet hatte.
Der Vogelhändler Adam, mit Lederjacke und Jeans, freute sich gerade, seine Verlobte zu treffen. Die Christel von der Post fuhr in der alltäglichen Uniform der Deutschen Post AG auf einem gelben, klobigen Rad auf die Bühne. Das Bühnenbild war sehr spärlich. Man brauchte schon einiges an Fantasie, wenn man das Stück nicht kannte. Die Musik war aber wunderbar, und Sybille versuchte, dem Geschehen auf der Bühne zu folgen und eins mit den Klängen zu werden. Ihre Konzentration wurde aber immer gestört, wenn sich der unmögliche Kerl neben ihr bewegte und sein betörender Duft zu ihr herüber waberte.
Nach dem zweiten Akt war eine Pause. Der Vorhang fiel, das Publikum applaudierte lautstark, es wurde langsam hell im Saal.
Sybille schaute nach rechts, weil sie zum einen erwartete, dass sich ihr Nebenmann endlich erhob, damit auch sie sich im Foyer die Füße vertreten konnte, und zum anderen neugierig auf den dreisten Zuspätkommer war.
Neben ihr saß ein Mann Mitte fünfzig. Er schien es nicht eilig zu haben. Er ruhte förmlich in sich selbst und strahlte eine unglaubliche Präsenz aus. Ihr Blick fiel auf seine grauen Haare. Da bekam der Begriff Fifty Shades of Grey eine ganz andere Bedeutung. Selbst sein Dreitagebart schimmerte in sämtlichen Grau-, Weiß- und Silber-Nuancen. Der Unbekannte trug einen anthrazitfarbenen, gut sitzenden Anzug. Dadurch kamen seine warmen, blauen Augen besonders gut zur Geltung, die jetzt auf Sybille ruhten.
Sybille klappte die Kinnlade runter. Er sieht eigentlich ganz gut aus. O Gott, ich starre ihn an ! Peinlich berührt über ihren Gedanken schaute Sybille verlegen nach unten. Hoffentlich hat er es nicht bemerkt.
Doch das hatte er natürlich. Er lächelte Sybille an, und strahlend weiße Zähne wurden bei seinem schiefen Lächeln sichtbar. „Ich möchte mich für vorhin noch mal in aller Form entschuldigen. Darf ich Sie zu einem Glas Sekt im Foyer einladen?“ Seine tiefe, warme Stimme traf sie wieder unerwartet. Nur schwer erwachte Sybille aus ihrer Trance.
„Ja, gern“, antwortete sie wie hypnotisiert. Sie folgte ihm mit der Masse in den großen Vorraum.
„Warten Sie hier. Ich bin gleich wieder da.“ Er schenkte ihr noch ein Lächeln und verschwand in der Menge. Die Zeit verging, und Sybille fühlte sich wie bestellt und nicht abgeholt. Sie stand verloren an ihrem geparkten Platz, während sich die Besucher um sie herum zu zweit oder viert zusammengefunden hatten. Gelächter war zu hören. Einige Zeit später kam er mit zwei Gläsern zurück. Erleichtert atmete sie auf.
„Tut mir leid. Es hat etwas gedauert. Am Tresen ist ein großer Andrang.“
Schüchtern lächelte sie ihn an. „Schon gut. Bin schon eine Weile erwachsen.“
„Das ist gut. Ich stehe auf reife Frauen.“ Seine sonore Stimme bereitete Sybille wieder eine Gänsehaut und rief in ihrem Inneren ein Beben hervor. Ihr wurde auf einmal unglaublich warm.
Sie lachte verlegen. „Hähä …“
„So, nun möchte ich noch mal ganz offiziell um Entschuldigung bitten, dass ich Sie … na ja.“
„Och … Sie konnten ja nichts sehen.“ Schnell fügte sie noch hinterher: „Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu arg getroffen? Tut mir leid. Es war ein Reflex.“
„Halb so schlimm. Nichts passiert. Ich hoffe, Sie können dem komischen Vogel vor Ihnen verzeihen?“
Sie prosteten sich zu und tranken ihren Sekt.
„Ich habe mich ja noch gar nicht bei Ihnen vorgestellt. Wo bleiben denn nur meine guten Manieren? Sie müssen ja einen ganz schlechten Eindruck von mir haben. Mein Name ist Volker Wagner.“
„Angenehm. Sybille Specht.“
Er nickte ihr wohlwollend zu. „Es freut mich, eine nette Sitznachbarin zu haben. Seit einiger Zeit ist es auf der linken Seite etwas leer gewesen.“
„Ja, da sitzt sonst meine Tante.“
„Die nette Frau Schäfer ist Ihre Tante? Geht es ihr gut? Ich habe sie ewig nicht gesehen. Wir haben uns immer so nett unterhalten.“
„Ja, es geht ihr soweit ganz gut“, flunkerte sie. Ihr Zustand ging diesem Mann nun wirklich nichts an. „Ich bin gerade zu Besuch bei ihr, wissen Sie?“
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