„Wie lange bleiben Sie denn? Habe ich das Glück, Sie beim nächsten Abo-Abend wiederzusehen?“
„Ich weiß nicht. Schon möglich!“
„Würde mich sehr freuen. Obwohl ich mir denken kann, dass Ihr Mann froh ist, wenn Sie wieder bei ihm zu Hause sind.“
Der Gong rettete sie vor der Antwort. Sie stellten die leeren Gläser ab und nahmen ihre Plätze im Saal wieder ein.
Auf den dritten Akt des Stückes konnte sich Sybille nun gar nicht mehr konzentrieren. Ihr war plötzlich sehr warm. Gleichzeitig rieselte ein Kälteschauer ihren Rücken runter. Obwohl sie die Musik und das Drumherum genoss, zog sich die zweite Halbzeit wie Kaugummi. Irgendwann war die Operette doch zu Ende, und alle Liebenden hatten ihren Liebsten auf Umwegen bekommen.
Tosender Applaus und stundenlanges Verbeugen der Künstler folgte, bis sich die vielen Besucher zu der Garderobe drängten. In dem Gewimmel und Gewühl der vielen Menschen verlor sie ihren Sitznachbarn aus den Augen.
Draußen war es empfindlich kalt geworden. Die Temperatur an einer Anzeige zeigt minus zwei Grad an.
Sybille zog den Schal enger um ihren Hals und schlug den Kragen ihrer Jacke zum Schutz vor der Kälte hoch. Sie stand an der Ampel und wollte zur Bushaltestelle gehen, als sie jemand anrempelte.
Verärgert drehte sich Sybille zu dem Rempler um.
„Oh, hallo, Frau Specht.“
„Hallo, Herr Wagner.“
„Ich hatte Sie aus den Augen verloren und wollte Ihnen eilig hinterher.“
„Jetzt haben Sie mich ja gefunden.“
„Ja. Wäre es zu verwegen, wenn ich Sie noch auf ein Glas Wein einladen würde?“
„Also, ehrlich gesagt, Herr Wagner, bin ich gerade auf dem Weg zum Bus. Den will ich auf gar keinen Fall verpassen, sonst muss ich eine Stunde in der Kälte warten.“
„Oh, das verstehe ich. Wann geht denn Ihr Bus?“
Sybille schaute auf ihre Uhr. Eigentlich hatte sie gedacht, dass er nach diesem Argument aufgeben würde. Sie kannte ihn ja gar nicht. „In fünfundzwanzig Minuten.“
„Perfekt! Wie wäre es, wenn wir hier gegenüber im Bestial einen kleinen Absacker nehmen und ich Sie dann zum Bus begleite? Eine so hübsche Frau wie Sie sollte um diese Uhrzeit nicht allein unterwegs sein.“
„Das sagen Sie wohl zu jeder Frau, Sie Charmeur!“ Sie musste zugeben, der Spruch hatte bei ihr gewirkt. Michael hatte nie so viel Süßholz geraspelt. Und obwohl sie vor ihrem Noch-Mann keine Rechenschaft ablegen musste, kamen Schuldgefühle in ihr auf. Diese neue Situation fühlte sich verboten und gleichzeitig gut an.
Ihr Gewissen überlegte hin und her. Einerseits war es unglaublich kalt, andererseits sollte er nicht denken, dass sie so leicht zu haben war. Er war aber auch überaus sympathisch und vertrauenerweckend.
Das sind Serienkiller wohl auch. Ihre Gedanken kreiselten auf Hochtouren in ihrem Kopf. Sybille rollte mit den Augen über ihre eigene Paranoia.
„Ich verstehe leider kein Augenrollisch. Ist das ein Ja?“
Jetzt musste Sybille wirklich lachen. „Ja, das ist ein Ja. Aber nur ein Glas!“
Die Zeit verflog bei einem Glas Wein wie im Flug. Das Gespräch war interessant. Aus einem Glas wurden doch zwei. Sybille hätte seiner Stimme ewig zuhören können.
„Herr Wagner, nun muss ich aber wirklich los. Sonst ist mein letzter Bus auch noch weg.“
„Ach, wie schade. Das könnte ich auf gar keinen Fall verantworten.“
Wie versprochen begleitete Volker Wagner Sybille zur Bushaltestelle.
Als ihre Linie angefahren kam, verabschiedete er sich bei ihr.
„Vielen Dank für den schönen Abend. Ich hoffe, wir sehen uns nächsten Monat wieder. Würde mich sehr freuen. Kommen Sie gut nach Hause und grüßen Sie recht herzlich Frau Schäfer von mir.“
„Danke. Es war wirklich ein schöner Abend. Vielleicht auf bald.“
Volker Wagner blieb solange am Bussteig stehen, bis der Bus abgefahren war.
Sybille verpasste beinah ihre Haltestelle. Ihre Gedanken hingen noch immer bei diesem schönen Abend beziehungsweise bei diesem interessanten Mann. Sie fühlte sich wie ein junges Mädchen nach seinem ersten Rendezvous. Wenn sie an Volker Wagner dachte, schlug ihr Herz schneller und sie bekam ein Kribbeln im Bauch.
Leise schlich sie sich in ihr Zimmer. An diesem Abend dauerte es lange, bis sie einschlief.
Am nächsten Morgen erwachte Sybille aus einem wunderschönen Traum. Beschwingt stand sie auf.
Auf der Treppe nach unten merkte sie, dass irgendetwas anders war als sonst. Kein geschäftiges Klappern war aus der Küche zu hören, kein Kaffeegeruch strömte durchs Haus. Ihr Verdacht bestätigte sich, als Sybille in die Küche kam. Die Tür, die zur davorliegenden Veranda und dann in den Garten führte, war auch verschlossen. Also war ihre Tante Hilde auch nicht bei den Hühnern.
Sichtlich beunruhigt ging sie nach oben und klopfte an ihre Tür. Vorsichtig wollte sie ihre Tante wecken. „Guten Morgen, du Langschläfer. Der Hahn hat schon gekräht!“
Nichts passierte.
Vorsichtig öffnete Sybille die Schlafzimmertür, spähte ins Innere und erschrak. „Tante Hilde, was ist passiert?“
Hilde lag mit schmerzverzerrtem Gesicht in ihrem Bett. Ihr blasses Gesicht war fast so weiß wie die Bettwäsche.
Mit wenigen Schritten war Sybille bei ihr. „Was hast du? Wo tut es dir weh?“
Hilde zeigte unter Wimmern auf den Nachtschrank.
„Brauchst du deine Tabletten? Die hier? O Gott, das ist ja Morphium. Ich rufe den Krankenwagen!“
„Nein!“ Hilde schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war leise und gebrochen. „Kein Arzt! Ich will nicht ins Krankenhaus.“
„Aber du hast offensichtlich starke Schmerzen! Du brauchst einen Arzt.“
„Der kann mir nicht mehr helfen. Bitte, gib mir eine Tablette.“
Sichtlich beunruhigt tat Sybille, was Hilde von ihr verlangte. „Wie meinst du das? Natürlich kann ein Arzt dir helfen. Sobald das Medikament wirkt, bringe ich dich wenigstens zu Dr. Weber.“
„Ich habe Krebs.“
„W–was? Seit wann?“ Sybilles Kreislauf sackte zusammen. Kreidebleich setzte sie sich auf den Rand des Bettes. Ihre Beine zitterten. Tausend Gedanken zogen plötzlich durch ihren Kopf. Gleichzeitig fühlte sie eine ohnmächtige Leere in sich. Die Zeit schien still zu stehen. Sybille rang um Fassung.
„Schon länger. Ich bin im Endstadium. Für eine Operation war es schon zu spät. Ich wollte nicht in einem miefigen Krankenhauszimmer dahinsiechen. Es war mein Wunsch, hier zu Hause zu bleiben.“
„Tante Hilde, das kann doch nicht möglich sein!“ Sybilles Augen füllten sich mit Tränen. Hilflos und mit einem unendlich schlechten Gewissen, dass sie einen so schönen Abend gehabt hatte, während ihre Tante todkrank im Bett lag.
„Doch, mein Kind. Es ist Zeit für mich, zu gehen.“
„Nein, Tante Hilde! Ich brauche dich doch. Sag mir nur, was ich für dich tun kann.“
„Du hast schon genug für mich getan. Es ist für mich eine große Freude, dass du hier bei mir bist. Das gibt mir die Kraft, auch das letzte Stück Weg zu gehen.“
„Warum hast du denn nicht schon früher was gesagt?“
„Anfangs hatte ich Angst, dass du nicht kommen beziehungsweise nicht bleiben würdest. Später hatte ich einfach nicht mehr den Mut dazu. Du warst doch selbst so unglücklich, da wollte ich dich nicht zusätzlich mit meinem Dilemma belasten.“
„Das hast du gemerkt?“
„Ach, Kindchen, so wie du immer am Telefon herumgedruckst und nicht auf meine Anrufe reagiert hast, war mir klar, dass Michael etwas damit zu tun hatte.“
„Oh, das wusste ich nicht. Das mit den Anrufen, meine ich. Ich hatte ja keine Ahnung und dachte, du hättest dich zurückgezogen oder … ach, ich weiß auch nicht! Tante Hilde, es tut mir ja so leid.“
Hilde hob schwach ihre Hand. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre fahlen Lippen. „Ach, lass gut sein.“
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