Letzte Nacht habe ich geträumt, dass er um mein Bett ganz viele Rosen gestellt hat. Das Blumenmeer war die reinste Pracht.“
Sybille wusste darauf nicht viel zu antworten. „Kurt muss noch eine Weile warten. Ich bin nicht bereit, dich schon gehen zu lassen.“
Ein Lächeln breitete sich auf Hildes Gesicht aus. Sie nahm Sybilles Hand zwischen ihre kraftlosen, faltigen Finger. „Aber ich vermisse ihn so. Du hättest ihn auch sehr gemocht, wenn du ihn gekannt hättest.“
Am frühen Morgen des zweiten Januars des neuen Jahres hauchte Hilde ihren letzten Atem aus. Sybille war bei ihr und hielt ihre Hand. Sie schauten sich in die Augen, bis der Glanz aus Hildes Augen für immer verblasste. Ihre Lippen umspielte ein Lächeln. Die Uhr im Wohnzimmer blieb auf fünf Uhr dreiundzwanzig stehen.
Ein eisiger Wind wehte auf dem Friedhof. Als Sybille nach dem Trauergottesdienst hinter dem Sarg nach draußen getreten war, hatte es angefangen, zu schneien. Nun verwandelte sich der Schnee gerade in einen unangenehmen Schneeregen. Die eiskalten Flocken stachen Sybille wie spitze Nadeln ins Gesicht. Neben ihr lief ihr Sohn Alexander.
Ein paar Nachbarn ihrer Tante waren gekommen und trauerten mit ernsten Mienen neben ihnen an der Grabstelle. Etwas abseits stand ein unbekannter Mann im mittleren Alter und in einem langen, pelzbesetzten Ledermantel. Auf dem Kopf trug er eine Fellmütze mit hochgeklappten Ohrenschützern.
Vor Sybille tat sich die tiefe Grube auf, die an den Seiten mit grünem Kunstteppich ausgelegt war. Wie durch Watte drangen die Worte des Pastors an ihr Ohr. „Voll Trauer stehen wir an diesem Grab, das für uns Ausdruck der Vergänglichkeit des irdischen Lebens ist. Doch durch Jesus Christus ist es auch zum Zeichen der Hoffnung geworden. So verbindet sich nun der Schmerz des Abschieds mit der Hoffnung auf eine ewige Heimat, die Gott unseren lieben Verstorbenen schenkt.“
Die beiden Bretter wurden gerade von einem Sargträger entfernt. Der helle Eichensarg wurde mit zwei Seilen von den anderen gehalten.
„Wir lassen dich nun los. In die ewige Heimat mögen Engel dich geleiten; die Chöre der Engel mögen dich empfangen und Gott möge seine Arme weit ausbreiten, dich bei deinem Namen nennen und dir zurufen: Komm wieder, Menschenkind. Wir lassen dich nun los.“
Jemand schniefte laut ins Taschentuch.
Langsam und behutsam wurde der messinggriffbeschlagene Sarg nach unten in die Tiefe hinabgelassen.
„Von Erde bist du genommen; zu Erde wirst du wieder werden. Gott selbst wird dich auferwecken am jüngsten Tag.
Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“
Bei den letzten Sätzen warf der Pastor mit einer Schippe Sand ins offene Grab. Das fast gefrorene Erdreich kam hart auf das Eichenholz auf. Dieser Ton ging Sybille durch Mark und Bein.
Nun war sie an der Reihe, als letzten Gruß Sand in die Tiefe zu werfen. Die anderen Beerdigungsgäste schlossen sich ihr schweigend an.
Alexander stand während der Beileidsbekundungen neben seiner Mutter. Seine Nähe war ihr eine große Unterstützung.
Als Letztes kam der mysteriöse Mann. Er reichte ihr die Hand. „Mein herzliches Beileid.“ Er hatte einen sehr starken Händedruck. Ihr Ring an der rechten Hand quetschte unangenehm die beiden danebenliegenden Finger. Der Schmerz war überdeutlich in den kalt gefrorenen Gliedern zu spüren. Er hatte nun Sybilles volle Aufmerksamkeit.
„Ich bin Dmitri.“ Sein russischer Akzent war unüberhörbar. „Ich hatte Sie angerufen.“
„Ach, tut mir leid! Ich dachte, Sie hätten sich verwählt.“
Sie erinnerte sich daran. Die Anrufe hatten an Hildes Todestag angefangen. Sie hatte immer wieder aufgelegt, wenn er sich gemeldet hatte. Sybille hatte keine Verbindung mit einem Dmitri und ihrer Tante herstellen können. Hilde hatte ihn nie erwähnt.
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Die Ereignisse an diesem Tag hatten sich überschlagen. Nachdem ihre Tante eingeschlafen war, saß Sybille noch ein paar Stunden an ihrem Bett, hielt ihre Hand und nahm Abschied. Dann musste sie wohl oder übel Dr. Weber anrufen. Der Totenschein musste ja ausgestellt werden. Das Beerdigungsinstitut musste informiert werden.
Als der ausgemergelte Körper ihrer Tante in den Zinksarg gelegt wurde, hatte Sybille das Gefühl, dass ihre Seele aus dem Körper getreten war. Sybille schaute dem Leichenwagen winkend hinterher, bis er um die nächste Kurve aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Von ihrem Pflichtbewusstsein angetrieben, informierte sie die Nachbarn, die mit größter Bestürzung die Nachricht aufnahmen. Sie benachrichtigte, so wie es Hilde gewünscht hatte, ihren Anwalt Dr. Stövner, der Wort hielt und sich um den Papierkram und alles Weitere kümmerte. Zum Schluss teilte sie Alexander die traurige Nachricht mit.
Er war wie alle anderen sehr bestürzt. „Mama, ich komme zu dir!“
„Aber dein Studium!“
„Das ist jetzt Nebensache. Ein paar Tage kann ich aussetzen. Außerdem kann ich vieles online erledigen.“
„Ach, Junge, das würdest du tun?“
„Na klar, mach kein Ding draus. Morgen Nachmittag bin ich da.“
Für Sybille war es ein großer Trost, jetzt nicht ganz allein vor dieser Sache zu stehen.
Sybille hatte gerade aufgelegt, da klingelte es. Sie öffnete die Tür mit dem Gedanken, es könnte ein Kondolenzbesuch oder Ähnliches sein.
Weit gefehlt. Vor ihr stand, Kaugummi kauend, Michael. Sein Arm ruhte lässig auf einem Bein, das auf der ersten Stufe stand. Das hellblaue Basecap trug er tief ins Gesicht gezogen. „Hallo, Billy, alles gut bei dir?“
„Nicht wirklich.“
„Na, wird schon werden. Du nimmst die Sache viel zu schwer. Sieh es einfach als Chance.“
„So, so. Was willst du?“ Eiseskälte klang aus ihrer Stimme.
„Ja … also … ich … Weißt du … es ist so, dass …“
„Nun drucks nicht so rum und komm auf den Punkt. Ich habe weder die Zeit noch die Lust hier rumzustehen und deinem Gelaber zuzuhören.“
Vor Schreck, solche Töne von Sybille zu hören, verschluckte er sein Kaugummi. Seine Augen wurden für einen Moment ganz groß. Sybille befürchtete schon das Schlimmste. Sie sah sich schon, wie sie den Heimlich-Handgriff anwandte, während Daniela hysterisch herumschrie.
„Okay!“ Ein umständliches Räuspern war zu hören. „Hör zu. Es geht um den Wagen, den du mitgenommen hast. Er ist auf die Firma zugelassen und, na ja, du gehörst ja nicht mehr dazu. Darum muss ich den Wagen wiederhaben. Aus versicherungstechnischen Gründen, natürlich. Du verstehst?“
„Natürlich! Er steht in der Garage.“ Sybille nahm den Schlüssel vom Schlüsselbrett und warf ihn Michael zu, der ihn gerade noch auffangen konnte. „Sonst noch was?“
„Sollte ich nicht reinkommen und wenigstens Guten Tag sagen? Immerhin weiß ich ja, was sich gehört! Oder ist der alte Drachen nicht da?“ Er lachte sich schlapp über seinen eigenen Witz.
„Nein, ist sie nicht!“
„Ups, noch mal Glück gehabt.“ Michael lachte gekünstelt.
„Bärli?“ Daniela Meyer stieg aus dem Sportwagen, der am Straßenrand geparkt war und den Sybille bisher nicht beachtet hatte. „Scha-hatz? Huhu, Frau Spe-hecht!“
„Was macht die denn hier?“
„Einer muss ja den Wagen – also, den anderen Wagen – zurückfahren!“
„Schon klar.“ Sybille ging voraus und öffnete das Garagentor. Michael stieg in das Auto, fuhr ihn nach vorn und überreichte Daniela die Schlüssel. Vor Freude sprang sie von einem Bein auf das andere und klatschte dabei in die Hände.
„Oh, Bärli, danke, danke, danke. Du bist der Beste!“ Sie knutschte Michaels Gesicht ab.
Hundewelpe , schoss es Sybille durch den Kopf, als sie das Gartentor verschloss. So viel Albernheit war im Moment unerträglich für sie.
„Grüß mir den Drachen!“ Michael hob zum Abschied die Hand.
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