1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 „Äh … ja.“ Sybille kramte in ihrer Tasche. Ihr Brief mit der heutigen Einladung segelte zu Boden.
„Bewerbungsunterlagen? Wo sind Ihre Bewerbungsunterlagen?“
„Wie … was? Hab’ ich nicht dabei. Ich wollte mich …“
„Gute Frau, wir benötigen Ihre vollständigen Bewerbungsunterlagen, damit wir Sie weitervermitteln können. Wo ist Ihr Formular BA II 2?“
„Mein was?“
„Ihre Arbeitslosenbescheinigung!“
Sybille zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Hab’ ich nicht!“
Die Sachbearbeiterin rollte mit den Augen und zog ein Schnütchen. „Also, so geht das nicht. Sie müssen schon mitarbeiten. Sonst wird das nichts.“ Sie knallte Sybille das Blanko-Formular der Arbeitslosenbescheinigung nebst Merkblatt auf den Schreibtisch. „Haben Sie Ihre Kündigung dabei?“
„Nein, habe ich nicht. Es ist so, dass mein Mann mich vor circa zwei Wochen sitzen gelassen hat und …“
„Das tut hier nichts zur Sache. Privates gehört hier nicht her.“
„… hat mich auch gleich aus unserer Firma entlassen, weil …“
„Haben Sie einen Arbeitsvertrag? Gehaltsbescheinigung? Irgendwas in der Richtung?“
„Nein.“ Sybille wurde mulmig zumute. Kleinlaut sprach sie weiter: „Nein, hab’ ich nicht. Wir hielten es nicht nötig, einen Arbeitsvertrag zu machen. Also, Micha … mein Mann fand das für unnötig, und ich habe ihm vertraut. Ich habe schließlich die Firma gemeinsam mit meinem Mann – meinem Exmann – aufgebaut. Das Gehalt ging in einer Summe auf unser Konto, als Privatentnahme, verstehen Sie? Ich habe auch nie gedacht, dass sich daran je was ändern oder dass das noch mal so wichtig für mich werden könnte.“
Ungerührt fuhr die Sachbearbeiterin fort, ohne sie dabei anzusehen. „Füllen Sie zum nächsten Termin diese Bescheinigung aus. Wir benötigen die Kündigung und Ihre vollständige Bewerbung. Sie können mir auch alles per Mail zusenden. Aber so, wie ich das jetzt schon beurteilen kann, werden Sie kein Arbeitslosengeld bekommen. Sie waren wahrscheinlich überhaupt nicht richtig als Arbeitnehmer angemeldet. Privat krankenversichert?“ Ein bestätigendes Kopfnicken kam von Sybille. „Ist häufig so, wenn die Ehefrau im eigenen Unternehmen mitarbeitet. Steuergründe, verstehen Sie? Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich Sie jemals vermitteln soll. Sie sind ja auch nicht mehr die Jüngste!“
„Also, ich bitte Sie!“, widersprach Sybille. „Ich bin gerade erst fünfzig geworden.“
„Sage ich doch! In dem Alter ist der berufliche Zug meistens abgefahren. Sie müssen nicht glauben, dass der demografische Wandel bei Ihnen eine Ausnahme macht. Die Medien berichten gern etwas anderes, aber die Realität sieht nun mal anders aus.“
„Das ist doch nicht möglich! Wovon soll ich denn leben?“
„Nun, Sie bekommen sicherlich Unterhalt von Ihrem Mann. Haben Sie Besitz?“
„Wir haben ein Haus.“
„Na bitte. Das müssen Sie sowieso verkaufen oder sich von Ihrem Mann auszahlen lassen. Wenn Sie keine Rücklagen mehr haben sollten, können Sie das Arbeitslosengeld II beantragen.“
Sybille war kreidebleich geworden. „Hartz 4? Ich? Das ist doch nicht möglich! Ich habe immer gearbeitet. War nie krank, jedenfalls nicht offiziell. Da muss doch was möglich sein?“
Die Sachbearbeiterin schaute ungeduldig auf die Uhr. Die Mittagspause rückte näher. Sie wollte es keinesfalls verpassen, mit ihren Kollegen zusammen in die Kantine zu gehen. „Tja, Sie können sich ja selbstständig machen. Sie haben schließlich Erfahrung in solchen Dingen.“ Der Drucker rappelte. „Ich drucke Ihnen die Informationen zur Existenzgründung aus. Legen Sie uns einen gut ausgearbeiteten Businessplan vor, und wir werden prüfen, ob bei Ihnen eine Förderung zum Tragen kommt.“
Sprachlos und völlig frustriert ging Sybille mit einem Stapel Papier in der Hand zu ihrem Auto. Wie in Trance fuhr sie nach Hause. Vorher fuhr sie noch am Supermarkt vorbei, um sich das Nötigste für die nächsten beiden Tage einzukaufen.
In ihrem Korb lagen neben Tiefkühlpizza, Brot und Aufschnitt eine Familienpackung Fürst-Pückler-Eis, drei Tafeln Schokolade, eine Tüte Gummibären, Salzstangen, Chips-Tüten und zwei Flaschen Rotwein. Beim Bäcker kaufte sie sich noch ein Creme-Törtchen und ein Marzipanhörnchen für den Nachmittag. Das würde sie nach diesem unerfreulichen Gespräch mit der reservierten Dame vom Arbeitsamt dringend benötigen.
Der angestaute Frust verhalf Sybille zu einem ungeahnten Energieschub. Sie krempelte ihre Ärmel hoch und sortierte in Rekordzeit den Rest ihrer Kleidung aus. Dabei heulte sie Rotz und Wasser und beschimpfte Michael aufs Übelste.
Die fünf gefüllten Müllsäcke brachte sie gleich zum Altkleidercontainer.
Zur Belohnung verspeiste sie ihr Kuchenpaket. Danach fühlte sie sich leer und ausgelaugt.
In eine Wolldecke gehüllt verbrachte sie den Abend mit Schokolade, Chips und einer Flasche Rotwein auf dem Sofa und schaute eine Liebesschnulze.
Am nächsten Tag wachte Sybille am späten Vormittag auf. Der Wein hatte es in sich gehabt. Ein Pochen an den Schläfen verriet ihr, dass es ein Fehler gewesen war, die zweite Flasche auch noch anzubrechen, nachdem die erste leer gewesen war.
Mit einem Stöhnen wuchtete sie sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Ein knautschiger Strubbelkopf mit einem runden Gesicht und Doppelkinn sah ihr aus dem Spiegel entgegen. Wenig hilfreich für diesen Morgen.
„O Gott!“ Mühselig wusch sich Sybille das Gesicht, zog ihren Morgenmantel an und machte sich auf den Weg in die Küche. Ein starker Kaffee und eine Aspirin würden gegen diese rasenden Kopfschmerzen helfen.
Es war einer der letzten schönen Spätherbsttage vor dem Winter. Die Sonne schien, und es versprach, ein schöner Tag zu werden. Als ob das Universum Sybille zeigen wollte, dass nach schlechten Zeiten gute folgten. Sie beseitigte die Spuren ihres nächtlichen Gelages. Dabei schimpfte sie mit sich selber, dass sie so blöd gewesen war, wieder so viel in sich hineinzustopfen.
„Es ist ja kein Wunder, dass sich Michael nach einer anderen umgesehen hat. Sieh dich doch an, du blöde Kuh!“ Dabei kullerten wieder heiße Tränen ihre runden Wangen hinab.
Den Nachmittag nutzte Sybille, um ihre persönlichen Dinge einzupacken. Fotoalben, Filme, Bücher. Ihren hart erkämpften Thermomix, die Krups-Küchenmaschine sowie einige Pflanzen von der Blumenbank, die wie durch ein Wunder noch nicht dem Tod durch Vertrocknung zum Opfer gefallen waren, fanden gut gewässert den Weg in einen der Kartons.
Am Abend knabberte sie noch ein paar Salzstangen und trank ein Glas Wein. Den Rest der Flasche schüttete sie in den Abfluss.
Der Sonntag brach an, und nach einer heißen Dusche fühlte sie sich gut und gewappnet für den Tag. Bevor Sybille das Haus für immer verließ, saugte sie noch mal durch und räumte alles auf.
Ein seltsames Gefühl beschlich sie, als sie die Tür hinter sich zuzog und den Schlüssel im Schloss umdrehte. Noch konnte sie nicht sagen, was es war. Zum einen überfiel sie Wehmut und Traurigkeit, zum anderen war dieses Gefühl wunderbar und berauschend. Aus Gewohnheit wollte sie den Schlüssel in ihrer Tasche an seinem altbekannten Platz verstauen, verharrte aber in der Bewegung. Dann drehte sie sich um und warf ihn entschlossen in den Briefkasten.
Sybille atmete auf. Sie war erleichtert. Jetzt wusste sie auch, ihren Gefühlszustand zu beschreiben.
Frei! Sie fühlte sich endlich frei.
Und als ob es der Himmel gehört hatte, brach durch die Wolken die Sonne durch und umhüllte die Luft mit einem goldenen Schimmer.
Befreit von einer Last fuhr Sybille zurück zu ihrer Tante nach Oldenburg und ihrer neuen Zukunft entgegen.
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Nun saß sie auf ihrem Bett und genoss die heimelige Atmosphäre. Ihre Gedanken gingen auf Reisen. Wie sollte es mit ihr weitergehen? Wovon sollte sie leben? Auf jeden Fall wollte sich Sybille am nächsten Tag ummelden und die Stellenbörse nach einem Job durchsuchen. Selbstständig machen? Womit sollte sie sich denn selbstständig machen? Die Worte der Sachbearbeiterin im Arbeitsamt schossen ihr wieder durch den Kopf, und ein dringendes Verlangen nach einer Tafel Schokolade überkam sie.
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