Heinzs Augen leuchteten stolz, während Charlotte irritiert über seinen letzten Satz nachdachte.
»Und was machst du bei diesem Projekt?«
»Bauleiter für den dritten Block. 500 Meter lang, sechs Stockwerke hoch. Ich bin dort für die Siemens-Bauunion beschäftigt. Realisiert wird das Ganze übrigens von der Deutschen Arbeitsfront.«
»Und über das Wochenende bist du nach Berlin gekommen?«
»Na ja«, Heinz räusperte sich, »ich wohne schon noch in Berlin und bin im Augenblick dreimal die Woche vor Ort. Den Rest erledige ich von Berlin aus. Demnächst beziehe ich allerdings ein Zimmer in Binz und werde dort von Montag bis Freitag wohnen. Bekomme einen kleinen Zuschuss und der Verdienst ist sowieso grandios. Also ich sage dir, für einen Bauingenieur gibt es kaum eine reizvollere Aufgabe.«
Charlotte nickte, ohne seine Euphorie zu teilen. Ein Nazi-Projekt, von dem er schwärmte! Wahrscheinlich gehörte es in die Reihe dieser größenwahnsinnigen Einfälle Hitlers, die im April in allen Zeitungen des Reiches angekündigt wurden. Der Umbau der Hauptstadt zur Metropole der Zukunft! Und dieser Mann neben ihr war dabei. Sein glühender Enthusiasmus irritierte sie zutiefst. Alles was er sagte ließ nur den einen Schluss zu, dass er diesem menschenverachtenden System äußerst aufgeschlossen gegenüberstand. Charlotte erhob sich und ging ein paar Schritte zum Ufer des Sees. Musik, vermischt mit ausgelassenem Gekicher, drang vom Clubgelände herüber, das Fest schien auf seinen Höhepunkt zuzusteuern. Sie fragte sich, ob Olaf und Rosa sich tatsächlich über ihren Verbleib Gedanken machten. Vielleicht sollte sie wieder zurückkehren. Plötzlich vernahm sie das Knacken von Ästen. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie seine rechte Hand auf ihrer Taille. Gleichzeitig begann er mit den Fingern der linken Hand ihren Nacken zu massieren. Ein warmer Schauer lief ihren Rücken hinunter. Sie wollte sich lösen, verharrte aus unerfindlichem Grund jedoch. Sie spürte seinen heißen Atem im Nacken. Seine Lippen. Sie wandte ihm den Kopf zu und erkannte schemenhaft die Konturen seines Gesichtes. Sein Mund näherte sich jetzt ihren Lippen. Sie roch die Bierfahne, gleichzeitig sein schweres Parfüm. Warum wehrte sie sich nicht? Er küsste sie. Zurückhalten zunächst, dann immer fordernder. Sie ließ es geschehen, blieb jedoch passiv. Lange hatte sie kein Mann mehr geküsste. Jetzt fühlte sie, wie sehr es ihr gefehlt hatte. Aber dieser Mann war der Falsche, das wusste sie seit ein paar Minuten. Kein Mann für die Zukunft, nicht einmal für eine kurze Affäre! Oder vielleicht doch? Seine Hände begann ihren Körper zu ertasten, jeden einzelnen Wirbel ihres Rückens, ihre Taille, die Schultern. Sie ließ es geschehen. Seine linke Hand schob sich behutsam in den Ausschnitt ihres blauen Sommerkleides. Im selben Moment spürte sie seine Erektion. Nein, schoss es ihr durch den Kopf, nicht das! Reflexartig ergriff sie sein Handgelenk, um das weitere Vordringen seiner Hand zu stoppen.
»Ich möchte das noch nicht. Ich hoffe, du verstehst das. Wir kennen uns doch erst ein paar Stunden.«
»Aber Charlotte, hab dich doch nicht so. Ich habe mich in dich verliebt. Was ist denn schon dabei?«
Heinz machte keine Anstalt, seine Hand zurückzuziehen. Im Gegenteil, sein Zeigefinger glitt über den Ansatz ihrer linken Brust. Vom anfänglichen Kribbeln in ihren Bauch war nichts mehr zu spüren. Ihre Gefühle waren urplötzlich abgestorben.
»Ich möchte es wirklich nicht«, entschied sie mit festem Ton und versuchte, seine Hand zu entfernen. Ohne auf sie einzugehen, drang er weiter in die Schale ihres BHs ein und legte die Hand über ihre Brust. Der warme, elektrisierende Schauer, der noch vor wenigen Minuten jede Ecke ihres Körpers erreicht hatte, war einem eiskalten Wasserstrahl gewichen, der das Blut in ihren Adern erstarren ließ.
»Lass mich sofort los«, rief sie barsch und versuchte, sich mit allen Kräften aus seiner Umklammerung zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte Übelkeit und war kurz davor, sich zu übergeben. Als Heinz ihr Kleid mit einem Ruck aufriss, sodass die beiden ersten Knöpfe am Ausschnitt abgetrennt wurden, erschrak sie heftig. Reflexartig versuchte sie, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. Mit einer heftigen Körperbewegung gelang es hier, sich aus seiner Umklammerung zu lösen und wollte losrennen, stolperte jedoch über eine Baumwurzel und fiel zu Boden. Heinz warf sich sofort über sie. Sie spürte einen starken Schmerz an der Schulter, wollte schreien, aber er presste ihr seine Hand auf den Mund, sodass nur ein Gurgeln herauskam.
»Warum machst du solche Umstände, Charlotte?«, fragte er mit vor Hohn triefender Stimme, während er ihr mit Gewalt den BH herunterriss. Sie erstarrte vor Angst, war plötzlich wie gelähmt. Seine schweißnasse Hand hatte er auf ihren Mund gepresst. Hilflos, mit aufgerissenen Augen, musste sie mit ansehen, wie sich sein Kopf auf ihren Körper herabsenkte. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrer rechten Brustwarze. Ein Blitz durchzuckte ihren Körper, sämtliche Muskeln spannten sich an. Ihr gelang es, den linken Arm zu befreien und ihre Fingernägel in seine Ohrmuschel zu krallen. Als sie mit aller Gewalt an seiner Ohrmuschel zog, schrie er vor Schmerzen auf und ließ von ihr ab. Im selben Moment konnte sie auch die rechte Hand befreien und auf seine Kehle drücken. Röchelnd rollte er von ihr herunter. Sie schwang sich hastig auf die Beine, dann trat sie ihm mit aller Wucht in die Genitalien. Er schrie ein weiteres Mal auf.
»Du widerliches Schwein!«, brüllte sie ihn an und spuckte auf ihn herab. Dann lief sie, von Panik getrieben, zurück zu den Tischen.
»Lotte, was ist passiert, wo warst du?« Rosa sprang entsetzt auf, als sie ihre Freundin erblickte. »Dein Kleid ist ja vollkommen zerrissen und schmutzig.« »Ich will hier weg«, rief Charlotte unter Tränen, während sie mit beiden Händen versuchte, ihre Kleiderfetzen zusammenzuhalten. »Ich will hier weg! So schnell wie möglich.«
Rosa hatte ihre Freundin in beide Arme genommen, um sie zu beruhigen. Auch Olaf war aufgesprungen. Viele Gäste blickten entsetzt zu ihnen hinüber, auch der einzelne junge Mann am Nebentisch.
Beruhige dich doch, Lotte.« Rosa streichelte ihr über das Haar. »Was ist passiert? Sag es mir.« »Er hat versucht, mich zu...« Charlotte wurde von einem Weinkrampf erschüttert.
»...zu vergewaltigen?« Rosa streichelte ihren Nacken. Charlotte nickte stumm.
»Wer war es?«, fragte Olaf in ruhigem Ton, als sie wieder zur Ruhe gekommen war. »Der Blonde vom Nachbartisch?«
Charlotte nickte schluchzend.
»Ich schnappe mir den Kerl. Wo ist er?«
»Am Ufer«, stammelte Charlotte. Olaf drehte sich um und rannte zum See hinunter, verfolgt von den neugierigen Blicken vieler Gäste. Heinz hockte direkt am Ufer, um seine eingerissene Ohrmuschel mit Wasser zu kühlen. Blut lief ihm am Hals hinunter und verschwand in seinem Hemdkragen. Als er Olaf hinter sich bemerkte, versuchte er, sich aus der Hocke zu erheben und sich umzudrehen. Noch in seiner Bewegung trat Olaf an ihn heran und schlug ihm die linke Faust ins Gesicht. Mit aufgerissenen Augen und einem Gurgeln auf den Lippen sackte Heinz in den schlammigen Boden. Olaf warf ihm einen verächtlichen Blick zu, wendete sich wortlos ab und ging zurück. »Was hast du gemacht, Olaf?«, fragte Rosa mit besorgter Miene.
»Ich habe diesem Mistkerl eins in die Fresse gehauen. Er liegt gerade im Wannsee und kühlt seine Birne.«
Olaf wandte sich Charlotte zu, die geistesabwesend vor einer Limonade saß. »Wie geht es dir, Lotte? Ich schlage vor, wir bestellen eine Droschke und fahren nach Hause.«
Charlotte nickte geistesabwesend.
Sonntag, 12. Dezember 1943
Paris, 20. Arrondissement,
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