Er wusste wirklich nicht, was er darauf sagen sollte, doch bei Arabella war das nicht tragisch. Sie holte nur kurz Luft und redete sofort weiter.
„Du solltest wirklich nett zu ihr sein.“
Nett sein – schon wieder!
„Bin ich sonst etwa ein Rüpel oder was?“
„Auf alle Fälle bist du im Moment nicht ganz du selbst.“
Als ob er noch daran erinnert werden müsste!
„Wenn Jasmin wach wird, ohne den Kater ihres Leben zu haben, dann bestell ihr bitte, dass sie zum Mädelsfrühstück bei mir eingeladen ist, ja? Und weil ich dich so gern habe, werd ich bei ihr ein gutes Wort für dich einlegen.“
„Das hatte ich bisher bei keiner Frau nötig“, erwiderte er gepresst.
„Tja, bisher warst du ja auch nie ein Rüpel“, gab Ara dreist grinsend zurück.
„Verschwinde lieber, bevor dir der Rüpel den Hintern versohlt!“
„Na, wenn Jasmin das hören würde“, stichelte sie weiter, rannte dabei aber schon in Richtung Tür und war einen Moment später verschwunden. Die Tür hatte sie – mal wieder – offen stehen lassen.
***
Mit pochendem Schädel quälte sich Jasmin aus dem Bett. Sie war mal wieder aus Albträumen hochgeschreckt und der übliche Jetlag, gepaart mit höllischen Kopfschmerzen, hatte sie nicht wieder einschlafen lassen. Als sie sich zu ihren Koffern herunterbeugte, schien ihr Schädel beinahe zu explodieren. Sie biss die Zähne zusammen und kramte in den Sachen nach ihren Schlaftabletten und Aspirin.
Nichts! Alle Schachteln leer!
Die Auslandsreise des Königs dauerte schon länger und sie hatte inzwischen alle ihre Reserven aufgebraucht.
Mit einem Stöhnen richtete sie sich wieder auf.
Wenn sie schon keine Tabletten hatte, brauchte sie jetzt wenigstens einen starken Schwarztee mit viel Zucker!
Sie ging in die kleine Küche des Gästequartiers und fand in den Schränken zum Glück, was sie benötigte.
Während der Tee zog, schleppte sie sich ins Bad und erledigte ihre übliche Morgenroutine.
Zurück in der Küche empfing sie der herrliche Duft des Tees. Sie goss ihn in eine Tasse, verheißungsvoll stieg der angenehme Dampf in ihre Nase. Jetzt fehlte nur noch eine große Portion Zucker. Bis in den hintersten Winkel suchte sie die Schränke nach Zucker ab, doch alles, was sie fand, waren ein paar Körnchen in der Zuckerdose.
Sie warf einen sehnsüchtigen Blick zu dem verlockenden Tee. Nein, ohne viel Zucker ging das einfach nicht, das musste sein!
Das Hämmern in ihrem Kopf wurde unerträglich.
Ihr Blick fiel auf die Verbindungstür.
„Dann muss es eben sein“, sagte sie zerknirscht und schob die schwere Kommode weg. Durch die geschlossene Tür fragte sie: „Ben-Yamin, bist du da? Bitte, ich bräuchte dringend Zucker.“
Keine Antwort.
Schnell schlüpfte sie in ihren Seidenkimono mit dem wunderschönen Orchideenmuster. Sie liebte, wie der edle Stoff ihre Haut streichelte. Die Frau des japanischen Botschafters hatte ihr den kostbaren Kimono geschenkt. Er hatte die Farbe ihrer Augen und sie nutzte ihn als Morgenmantel.
Bevor sie den Schlüssel herumdrehte, öffnete sie noch rasch ihre Jalousien. Mit der Sonne im Rücken war sie sicher vor einem Vampir. Erst jetzt öffnete sie die Verbindungstür einen Spaltbreit.
„Ben-Yamin?“
Seine Wohnung war totenstill.
Zögernd öffnete sie die Tür ein Stückchen weiter und bemerkte, dass Sonnenlicht in den Raum fiel, das bis zur Eingangtür reichte.
Nein, Ben-Yamin konnte hier nirgends sein, das Sonnenlicht hätte ihn verbrannt. Vielleicht hatte er das Quartier bei Dunkelheit verlassen und vergessen, die Jalousien vorher zu schließen. Nun war sie also allein und damit sicher, denn auch keiner der anderen Vampire würde in einen sonnendurchfluteten Raum treten.
Von ihrem König wusste sie, wie schmerzhaft – und kurz darauf tödlich – Sonnenstrahlen für Vampire waren. Deswegen hatte er auch zwei Doubles.
Sie würde versuchen, Zucker zu finden, und danach die Jalousien für ihn schließen.
Nachdem sie ihre dampfende Teetasse samt Löffel geholt hatte, trat sie barfuß in den Raum. Das Erste, was sie entdeckte, war ein Zettel auf seinem Esstisch: „Falls du Kopfschmerzen hast“. Daneben stand ein Glas Wasser und zwei einzeln verpackte Aspirin.
Während sich die Brausetabletten auflösten, strich sie über das gerahmte Foto von ihm und Lissi, das immer noch auf dem Tisch stand.
„Danke, du wärst ein toller kleiner Bruder.“
Sie musste schmunzeln, denn er hatte mit „Dein kleiner Bruder“ unterschrieben.
Kaum ausgetrunken, überprüfte sie das fensterlose Badezimmer, um keine Überraschung zu erleben, und ging dann zielsicher durch die offene Tür in Bens Küche.
Die Zuckerdose war schnell gefunden und überglücklich genoss sie den ersten Schluck Tee.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, gleich wieder schnurstracks zurück in ihr Gästequartier zu gehen, doch dieser Ben-Yamin hatte ihre Neugierde geweckt. Gestern hatte er sie bestimmt absichtlich betrunken gemacht und trotzdem wieder losgelassen, als sie darum bat. Er hatte sie nicht aufgehalten und war ihr auch nicht ins Gästequartier gefolgt, und das, obwohl sie tief in sich gespürt hatte, dass Ben-Yamin sie eigentlich nicht gehen lassen wollte.
Sich mit ihm – einem Mann – zu unterhalten, war für sie völlig ungewohnt gewesen, aber es hatte ihr gut gefallen. Er hörte zu, zeigte echtes Interesse und fragte nach. Außerdem war er witzig und brachte sie zum Lachen. Das war ihr mit einem Mann noch nie passiert – na ja, wie auch?
Ihr Bauch begann wieder, so schön zu kribbeln, und ihr wurde ganz warm – der Tee zeigte wohl Wirkung.
Sie schaute sich zunächst alle Bilder an der Wand an, erst im Esszimmer, dann im Wohnzimmer. Dieser Ben-Yamin strahlte etwas aus, das sie nicht benennen konnte. Sie spürte es sogar, wenn sie nur Fotos von ihm sah. Sie fühlte sich dann, als wäre tief in ihr drin ein geheimer Wunsch, und doch wusste sie nicht, welcher.
Wenn sie seine Wohnung erkundete, würde sie ein bisschen mehr über ihn erfahren und dem ganzen Rätsel vielleicht auf die Spur kommen.
Sie strich über die geschwungene Kontur des Flügels, auf dem er mit so viel Gefühl und Hingabe gespielt hatte. Die Musik musste etwas in ihr zur Ruhe gebracht haben, denn sie war bald darauf eingeschlafen. Sie konnte sich vorstellen, immer gut einzuschlafen, wenn er den Tasten so wunderbare Melodien entlockte.
Zur Sicherheit klopfte sie, bevor sie die nächste Tür öffnete. Vor ihr erstreckte sich ein riesiges Studio. Überall lagen verschiedenste Sprühpistolen, Farben und Lappen herum. Eine der riesigen Wände war voller Frauenfotos. Kurz darauf war ihr klar, was er mit der Farbe anstellte: Er bemalte Körper – und zwar nackte Frauenkörper!
Sie spürte, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. Ihre Neugierde siegte jedoch und sie betrachtete jedes einzelne Foto. Von Bild zu Bild wuchs ihre Faszination, denn Ben-Yamin verwandelte diese Frauen in wahre Kunstwerke: zauberhafte Tiere, paradiesische Gewächse, teils der Fantasie, teils der Wirklichkeit entsprungen. Obwohl sie so gut wie nichts anhatten, stand weder ihre Nacktheit noch etwas Sexuelles im Vordergrund.
Jasmin spürte, wie eine Träne ihre Wange herunterlief, und mit einem Mal begriff sie, dass sie diese Frauen beneidete.
Es war offensichtlich, dass sie sich ganz ungezwungen in Ben-Yamins Gegenwart benahmen, während sie selbst stets innerlich zu Eis erstarrte, wenn er sie berührte oder ihr zu nahe kam.
Dabei hatte er ihr nichts getan – zumindest bisher – und sah märchenhaft schön aus. Es stimmte: Brad Pitt in seinen jungen Jahren sah ihm wirklich zum Verwechseln ähnlich.
Mit einem Mal stiegen ganz und gar merkwürdige Gedanken in ihr auf: Wenn Ben-Yamin bewusstlos auf der Krankenstation liegen würde und nicht Aisha – würden ihre Hände und ihr Körper dann vielleicht nicht zittern? Wäre sie imstande, mit ihren Fingerspitzen seine Gesichtskonturen nachzufahren? Oder seine sandfarbenen Augenbrauen, die mit seinem zeitweise frustrierten Blick einen Hauch von Melancholie verbreiteten? Wie würden sich seine vollen Lippen anfühlen, die so weich aussahen? Wenn sie eine seiner Haarsträhnen zurückstrich, die seinem Zopf im Nacken immer entflohen und ihm ins Gesicht hingen – würden sie sich so seidig anfühlen, wie sie aussahen?
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