Jasmin hatte seinen Jagdinstinkt geweckt, auch wenn seine Beute in dieser Nacht nur Antworten sein würden, also hob er eine Augenbraue. „Ich bin neugierig.“
„Ich habe meine fehlende Schulbildung nachgeholt und einen Abschluss gemacht.“
Als er sie fragend ansah, erklärte sie: „In unserem Dorf konnte ich nur die Grundschule besuchen. Die nächste weiterführende Schule war zu weit weg, außerdem musste ich zu Hause mithelfen und – wurde früh verheiratet.“
Wütend unterdrückte er ein mörderisches Knurren, doch seine Miene bezüglich einer so frühen Heirat verriet wohl alles.
„Meine Eltern meinten es gut mit mir!“, protestierte Jasmin sofort, doch ihr bitterer Gesichtsausdruck sprach Bände.
„Mein verstorbener Mann kam aus dem reichen Nachbarstaat und war in ihren Augen sehr wohlhabend. Sie wollten, dass ich eine bessere Zukunft habe als in unserem Dorf, wo es weder fließendes Wasser noch klimatisierte Häuser gibt.“
Auch ohne Einzelheiten zu wissen, hätte er diesem Kerl am liebsten jeden Knochen einzeln gebrochen und dann seine Haut streifenweise abgezogen. Aber leider war ihr Ehemann schon tot und er wollte das Gespräch am Laufen halten. Deshalb hob er in einer beschwichtigenden Geste die Hände.
„Hey, ich hab keinen Ton gesagt, Jasmin. Bitte erzähl weiter.“
Sie atmete tief durch.
„Nach dem Schulabschluss habe ich mehrere Fernlehrgänge in unterschiedlichen Fremdsprachen absolviert. Leider habe ich aber nur zwei staatlich anerkannte Abschlüsse. Die Prüfungen dafür legte ich während eines Staatsbesuchs meines Königs in London ab.“ Einen Moment lang sah sie traurig zur Seite. „Bei allen anderen war es mir nicht möglich, persönlich zu den Prüfungen zu erscheinen.“
„Das erklärt wohl, warum du unsere Sprache so perfekt beherrschst“, warf er rasch ein, denn er mochte sie nicht traurig sehen.
„Um ehrlich zu sein, musste ich nicht so hart dafür lernen wie andere“, antwortete sie bescheiden. „Ich bin wegen dieses Zeichens anscheinend außergewöhnlich begabt. Das meint zumindest mein König.“
Sie schob ihren schwarzen Ärmel zurück und deutete auf die Innenseite ihres linken Handgelenkes, wo sich ihre Blüte der Ewigkeit befand. In den beiden Blättchen, die eine Symbiontin schon bei der Geburt kennzeichneten, hätten Menschen nur ein außergewöhnlich filigranes Branding gesehen, doch in den Augen eines Vampirs leuchteten sie fluoreszierend.
Ben fragte sich, welche Blüte sich wohl aus ihren Blättchen entwickeln würde, falls eine Symbiose mit einem Vampir entstand. Die war bei jeder Frau nämlich anders und es geschah nur dann, wenn bei beiden gleichzeitig, sowohl beim Vampir als auch bei der Frau, ein ganz bestimmter, komplexer Hormoncocktail im Blut bildete.
Einfacher gesagt: Die Chemie, die der menschliche Körper im Blut erzeugen musste, um die Symbiose in Gang zu setzen, wurde durch Liebe, Verliebtsein oder Leidenschaft ausgelöst. Erst sie brachte die Blüte der Ewigkeit zum Erwachen und war damit ein äußeres Anzeichen der starken, inneren Verbindung, die zwischen ihnen wuchs, und der beginnenden Symbiose. Aber so, wie Jasmin auf Männer reagierte, würde die Blüte sicher niemals erwachen.
Andererseits hätten die überlangen Ärmel die sicherlich ästhetische Blüte sowieso verdeckt, genau wie den Rest ihres wunderschönen Körpers, der sich unter schwarzen, konturlosen Tüchern verbarg. Für ihn war das schon fast ein Verbrechen.
„… deshalb begleite ich unseren König auch als Übersetzerin auf vielen seiner Auslandsreisen“, erklärte Jasmin gerade. „Zudem gibt mir das die Gelegenheit, etwas von der Welt zu sehen.“
Bei der letzten Bemerkung leuchteten ihre Augen geradezu, aber dann fügte sie leiser hinzu: „Leider sehe ich von der Limousine, den Hotels oder den Konferenzräumen aus kaum etwas von dem, was ich vorher im Internet entdeckt habe.“
Jetzt – er beschloss, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt.
Für ihn war von großer Bedeutung, was sie ihm gleich antworten würde, und es hatte Einfluss auf die nächsten Tage. Aber damit Jasmin nichts ahnte, formulierte er seine Frage bewusst als lässige Nebenbemerkung.
„Wenn du drei Wünsche frei hättest, wie im Märchen, was würdest du dir wünschen, Jasmin?“
Sie bekam glänzende Augen und einen verträumten Blick – das kam sicher nicht nur vom dritten Glas Traubenlikör – und es gefiel ihm sehr, sie so zu sehen.
Endlich habe ich mal was richtig gemacht und war nett!
„Autofahren! Ich wünsche mir schon so lange, Auto zu fahren. Im Land des Königs ist es leider verboten, dass Frauen fahren lernen oder selbst ein Fahrzeug lenken – noch nicht mal den Bimmelzug im Zoo, am Frauentag.“
Frauen durften nicht Auto fahren? Würden sie den Männern sonst davonfahren oder was? Wobei – die Unfallstatistik dort wäre mal einen Blick wert …
„Meine Aufenthalte als Übersetzerin des Königs waren leider immer zu kurz, um im Ausland eine Fahrerlaubnis zu erwerben.“
„Und dein zweiter Wunsch?“
„Ich würde wahnsinnig gerne mal tauchen.“
Fragend sah er sie an „Aber du tauchst doch erstaunlich gut.“
Er hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen! Ein Glück, dass sie nicht nachfragte, woher er das wusste.
„Nein, ich meine so richtig, mit einem Atemgerät, im Meer, zwischen den Fischen und Korallen. Ich habe so viele Filme darüber gesehen – es muss fantastisch sein.“
Ihr sehnsüchtiger, verträumter Gesichtsausdruck war ein größerer Genuss als der Wein in seinem Glas und machte ihn beinahe süchtig. Er wollte sie unbedingt öfter so erleben.
„Mein dritter Wunsch wäre es, einmal in einer richtigen Disco zu tanzen mit künstlichem Nebel, Licht- und Soundeffekten.“
Jasmin musste wohl seinen verständnislosen Blick aufgefangen haben, denn sie erklärte ihm: „Bisher habe ich immer nur für mich allein getanzt. Diskotheken oder Nachtclubs sind bei uns verboten, und wenn es welche gäbe, wäre es sicher nicht erlaubt, dass ich ohne Ehemann dorthin gehe oder entsprechend leicht bekleidet in Gegenwart anderer Männer tanze. “
Mit leicht bekleidet meinte sie vermutlich ohne den schwarzen Stoffberg. Aber um ehrlich zu sein: Falls sie seine Freundin wäre, würde er sie auch nicht allein in die Disco lassen, wo eine Horde geiler Männer darauf wartete, eine Frau abzuschleppen – egal ob mit oder ohne Stoffberg.
War er am Ende etwa auch nicht besser, als jene arabischen Männer, die ihre Frauen nicht ohne männliche Begleitung aus dem Haus ließen?
Jasmin senkte ihren Blick wieder einmal zur Tischplatte und ergänzte leise: „Aber ich hätte auch zu große Angst, dass Männer Gefallen an mir finden und …“
Oh, sie würden ganz sicher Gefallen an ihr finden und er wüsste genau, was er mit denen anstellen würde …
Jasmin hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen.
„Wie machen das die Frauen in eurem Land nur?“
„Sie tanzen sich die Seele aus dem Leib, lassen all ihre Gefühle raus und haben jede Menge Spaß.“
Jasmin fing an, sich leicht hin und her zu wiegen.
„Aber wenn …“
Ihm fielen tausend schmerzhafte Sachen ein, die er mit Kerlen tun würde, wenn … Doch er gab sich alle Mühe, ganz im Sinne von emanzipierten Frauen zu antworten: „In unserem Land wehren sich die Frauen und zeigen den Männern ihre Grenzen.“
„Und wie?“, stieß sie in einer Mischung aus Angst und Zorn aus, ohne dabei hochzusehen.
„Sie sagen deutlich, wenn sie etwas nicht wollen. Wenn es sein muss, verteilen sie auch mal eine Ohrfeige oder einen Tritt in die richtige Stelle.“
„Und das funktioniert bei euch?“, fragte Jasmin beinahe hoffnungsvoll und sah ihm dabei endlich in die Augen. Die abgrundtiefe Furcht, die er darin sah, machte ihn wütend.
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