Ben meinte, den Ansatz eines Lächelns zu erahnen.
Verstohlen blickte sie zu ihrem Weinglas.
„Ein Glas wird dich nicht betrunken machen und ich werde es niemandem verraten.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Zögernd ergriff sie das Weinglas – beinahe wie ein Kind, das verbotenerweise von Fremden Süßigkeiten nimmt – und nippte daran.
Ben hob eine Augenbraue. „Und?“
„Er streichelt die Zunge und mir wird ganz warm“, flüsterte Jasmin so leise, als würden Spione vor der Tür horchen. Dann blieb sie wieder still, ein Gespräch entwickelte sich nicht.
Als er nachdenklich an seinem Lederarmband herumspielte, kam ihm eine Idee.
In Windeseile holte er das gerahmte Bild vom Klavier und stellte es vor Jasmin auf den Tisch. Das Foto zeigte Lissi, die auf seinen Schultern saß, und sie strahlten beide vor Freude.
„Das ist meine Schwester Lissi. Nachdem ihr der Doktortitel verliehen wurde, haben wir einen Freudentanz veranstaltet.“
Jasmin berührte mit ihren Fingerspitzen beinahe ehrfurchtsvoll das Foto.
„Sie sieht glücklich aus.“
„Das war sie. Lissi hat nach dem Tod unseres Vaters im Gästequartier gewohnt, wo du jetzt untergebracht bist. Du wirst dort noch einige Fotos von uns an der Wand finden.“
„Wo ist deine Schwester jetzt?“
„Verheiratet.“
Jasmins Gesichtsausdruck wurde kalt.
„Hast du sie verheiratet?“
„Oh nein“, meinte er schmunzelnd und schüttelte den Kopf. Lissi hätte sich nie einen Ehemann von ihm vorsetzen lassen! „Ich hab nur dafür gesorgt, dass es ihr möglich war, den Mann zu heiraten, den sie liebt und mit dem sie bis heute glücklich ist.“ Um ihr einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, ergänzte er: „Und wenn ihr Mann jemals wagen sollte, sie zu schlagen, dann würde ich ihm sämtliche Knochen im Leib brechen.“
Jasmin strich geradezu zärtlich über das Foto.
„Deine Schwester hat großes Glück, einen solchen Bruder zu haben.“
„Weißt du, mit Lissi bin ich immer wunderbar zurechtgekommen und wir hatten viel Spaß zusammen. Wenn ich versuche, dich wie meine Schwester zu behandeln, könntest du dann nicht versuchen, in mir so etwas wie einen Bruder zu sehen?“ In der Hoffnung, dass sie wenigstens keine schlechte Erfahrung mit Brüdern hinter sich hatte, fragte er: „Du hast doch Brüder, oder?“
„Nur einen kleineren Bruder. Nach seiner Geburt war meine Mutter leider nicht mehr in der Lage, Kinder zu bekommen.“
„Erzähl mir von ihm“, ermunterte er sie.
„Sein Name ist Sami, das heißt der Erhabene. Die anderen Jungs in unserem Dorf haben ihn wegen seines Namens immer geärgert. Denn erhaben passte überhaupt nicht zu ihm. Er konnte durch eine Kinderlähmung kaum laufen und keiner der anderen wollte mit ihm spielen. Also hab ich ihn die ersten Jahre auf meinen Schultern getragen, wie du deine Schwester an diesem Tag. Jetzt bist du größer und erhabener als alle anderen, hab ich dann gerufen und er hat lauthals gelacht. Wenn ich nicht dabei war, haben die anderen ihn oft geärgert und auch schon mal verprügelt. Bis ich einmal dazukam und dem Größten mit einem Stock die Nase gebrochen habe.“
Oh ja! So wie sie heute dem Vampir entgegengetreten war, konnte er sich das gut vorstellen.
Dennoch hatte sie zig alte Brüche und eine panische Angst vor Männern, was ihn ungeheuer zornig machte und ihm verriet, dass irgendwann irgendetwas gewaltig schiefgelaufen war, und er wollte unbedingt wissen, was.
Heute würde sie es ihm sicher noch nicht erzählen – aber er war ein geduldiger Jäger …
Ben lehnte sich lässig zurück und schlug vor: „Wie wäre es, wenn du für die nächsten Tage einfach so tust, als wäre ich dein kleiner Bruder?“
Jasmin musterte ihn amüsiert von oben bis unten und schmunzelte doch tatsächlich. Es gefiel ihm ungemein und verlieh ihrem Gesicht einen entspannten Ausdruck. Vielleicht lag es auch an dem Glas Wein, das sie viel zu schnell getrunken hatte.
Er füllte ihr sofort nach und lächelte verschmitzt.
„Na ja, dein kleiner Bruder hat eben immer brav seinen Teller leer gegessen und ist deshalb groß und stark geworden.“
Da, ein erstes kleines Lächeln, aber dann senkte sie schon wieder den Blick und wurde ernst.
„Wir beide wissen, dass du nicht mein Bruder bist und nur auf dem Papier zur Familie gehörst.“
Er versuchte, dieses Argument mit einem Witz auszuhebeln: „Hey, dafür kann ich nun wirklich nichts! Ich bin weder dein Vater noch ein alter tattriger Greis und heiraten willst du mich ja auch nicht.“
„Mein König wäre damit wohl kaum einverstanden.“ Und leiser fuhr sie fort: „Ich sehe ihm an, dass er mich …“
Sie ließ den Satz offen, aber er war ja nicht blöd. Um sie aus ihrer bedrückten Stimmung zu reißen, fuhr er auf witzige Art fort: „Also, du siehst: Die einzige freie Rolle, die noch übrig bleibt, ist die deines Bruders. Und bevor du mir widersprichst, erzähle ich dir, wie viel Spaß Lissi und ich früher gehabt haben …“
Nach dem zweiten Glas Wein stellte sich heraus, dass Jasmin Traubenlikör ebenfalls sehr mochte.
Vielleicht war das auch der Grund, warum sie sich in seiner Gegenwart mehr und mehr entspannt hatte, selbst wenn er die Lorbeeren dafür gern für seine Person geerntet hätte.
Er schenkte gleich noch einmal nach und meinte gedankenverloren: „Harem – das hört sich für mich wie ein Märchen aus Tausendundeine Nacht an.“
„Im Grunde genommen ist der Harem nur ein abgetrennter, geschützter Bereich für die Frauen.“ Sie zeigte auf die offene Tür zum Gästequartier. „Das dort ist sozusagen dein Harem. Es ist mein Frauenbereich, zu dem kein Mann Zutritt hat.“
„Ich dachte, die Wächter des Harems wären immer Eunuchen. Da kann ich wohl froh sein, dass ich für den Job keine Opfer bringen musste.“ Schmunzelnd griff er sich in den Schritt.
Jasmin wurde rot und blickte zur Seite.
„Das wäre schade“, flüsterte sie kaum hörbar, „du wirst bestimmt einmal die stärksten und schönsten Söhne zeugen.“
„Oder die hübschesten Töchter.“ Am liebsten mit dir , schoss es ihm unwillkürlich durch den Kopf und er wurde augenblicklich hart. Um sich nichts anmerken zu lassen, rückte er näher an den Tisch und fragte schnell: „Was machen Frauen eigentlich den ganzen Tag in einem Harem?“
Das Bild von einem Diwan, auf dem sich Jasmin genüsslich rekelte, stand ihm wieder vor Augen.
„Na ja, sie verwenden viel Zeit für ihre Schönheitspflege, lassen sich Friseure und Nagelstylisten kommen. Wenn sie Spaß haben wollen, spielen sie gern Wii, Playstation oder singen Karaoke, was sich manchmal furchtbar anhört …“
Sie mussten plötzlich beide lachen.
Das unbeschwerte Lachen verzauberte Jasmins Gesicht und er nahm sich vor, sie häufiger zum Lachen zu bringen.
„Außerdem lieben es die Frauen meines Königs, online shoppen zu gehen. Manchmal laden sie sich aus dem Internet auch heimlich Filme aus dem Westen herunter, die bei uns verboten sind …“
Er gewann den Eindruck, Jasmin redete nur von den anderen, aber sie war nicht wie die anderen Haremsdamen. Sie hatte nicht kreischend hinter jemandem Deckung gesucht, sondern den Mut gehabt, sich einem mörderischen Raubtier in den Weg zu stellen.
War es möglich, dass sie in dieser Situation gar nicht den Mann in dem Vampir gesehen hatte?
„Was ist mit dir, Jasmin? Was machst du so?“, hakte er schließlich nach.
„Anfangs habe ich auch Wii und das ganze Zeug gespielt. Es war lustig, aber bald wurde mir das zu stupide. Ich wollte mehr …“
Sie ließ den Satz in der Luft hängen und stachelte seine Neugier damit nur noch mehr an.
Wer war Jasmin? Was wünschte sie sich tief in ihrem Herzen und was verbarg sie dort mit aller Macht?
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