Aber noch etwas anderes geschah: Ihm war, als würde sie mit ihren Augen über eine imaginäre Brücke gehen und bei ihm Schutz suchen. Unwillkürlich lehnte er sich ein Stück über den Tisch und hielt die Verbindung.
„Solange du bei mir bist, wird dich keiner anfassen, das schwöre ich dir.“
Ohne zu überlegen, waren die Worte direkt aus seinem tiefsten Inneren gekommen.
„Ich glaube dir“, hauchte Jasmin und hielt noch für einen Moment die Verbindung, bevor sie blinzelte und zur Seite schaute. „Aber was wäre, wenn …“
„Jasmin, wenn ein Mann eine gewisse Grenze überschreitet, ist das bei uns gesetzlich strafbar!“
Er brauchte seine ganze Beherrschung, um seinen Zorn zu unterdrücken und mit ruhigerer Stimmer weiterzusprechen.
„Es gibt natürlich Orte oder Umstände, in die sich eine Frau lieber nicht allein begeben sollte, aber das wissen sie.“
Jasmin schien sich förmlich in ihrem schwarzen Stoff verkriechen zu wollen, als sie zögernd fragte: „Liegt es an der Kleidung, wenn eine Frau … zumindest behaupten das viele in unserem Land.“
„Sag du es mir. Denn dann dürfte es in eurem Land ja keine Vergewaltigungen geben, oder?“
Sie riss den Blick zu ihm hoch, ein Ausdruck des Schocks lag auf ihrem Gesicht, während sie regelrecht erstarrte.
Treffer!
Doch Jasmin brauchte nicht lange, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Sie erhob sich ruckartig – und schwankte.
Er war im Bruchteil einer Sekunde bei ihr und stützte sie am Arm.
„Lass mich los!“
„Ich wollte doch nur …“ Aber er ließ sofort los.
„Das schaffe ich allein.“
Sie hielt sich an der Stuhllehne fest und atmete tief durch.
„Danke, dass du mir das Abendessen gebracht hast. Es war ausgezeichnet.“
„Ich werde es Sarah ausrichten“, sagte er traurig, denn sie hatte ihm schon den Rücken zugewandt und ging zur Tür, die sie trennen würde. Zwei Herzschläge von Jasmin, dann war sie verschwunden. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und er hörte, wie sie erneut etwas Schweres, vermutlich die Kommode, vor die Tür schob.
Ben räumte das Geschirr ab.
Vampire brauchten zwar nur ein paar Stunden Schlaf, auf die man auch mal verzichten konnte, doch die vergangene Nacht hatte ihn völlig geschafft. Er war hundemüde. Seine Gedanken und Gefühle kreisten jedoch nur um Jasmin. Ihm war klar, dass er so nie in den Schlaf finden würde, ebenso wie Jasmin, was er an den Geräuschen aus dem Gästequartier erkannte.
Also machte er, was seiner Seele schon immer gutgetan hatte, wenn er sich innerlich fühlte wie ein aufgewühltes Meer: Er setzte sich an seinen Steinway-Flügel.
Mit „Für Elise“ von Beethoven begann er und arbeitete sich dann zeitlich vor. Zwischendurch hielt er inne, um Jasmins Herzschlag zu lauschen, und registrierte zufrieden, dass sie eingeschlafen war. Er war gerade am Ende der „Ballade pour Adeline“, da hörte er draußen Arabellas leichte, schwungvolle Schritte. Gleich darauf wehte sie wie eine frische Brise zur Tür herein. Ihr zuliebe spielte er „Pretty Woman“. Das wollte sie immer von ihm hören und es war eines der wenigen Dinge, die Aras Redefluss aufhalten konnten. Er warf einen Blick in den Spiegel an der Wand hinter dem Flügel. Heute hatte das Exmodel mal purpurne Strähnen in ihren schwarzen Haaren, die zu Zöpfen geflochtenen waren. Selbst ohne Zöpfe wirkte sie in ihrer Art immer ein bisschen wie Pippi Langstrumpf.
Kaum hatte er den letzten Akkord gespielt, zerplatzte ihre rosa Kaugummiblase und sie fragte mit unverhohlener Neugier: „Und? Wie ist unsere unberührbare Orchidee so?“
„Wer bitte?“
„Na, Jasmin eben! Wusstest du nicht, dass man sie hinter vorgehaltener Hand so nennt? Auf ihrem Körper sollen die schönsten Orchideen blühen, aber wer sie anfasst, ist des Todes, heißt es.“
„Kein Wunder. Entweder der König droht, dich auszuweiden, oder sie geht mit einem Dolch auf dich los.“
„Ich wollte mal nachfragen, wie es so mit euch läuft. Hab gehört, ihr hattet keinen guten Start.“
Ben seufzte. „Das ist noch untertrieben. Aber woher weißt du das alles?“
„Ich hab mit Sarah und Ambi gequatscht. Der hat sich prächtig mit den Frauen des Königs unterhalten, als er sie zum Hotel fuhr. Die sind wohl ganz locker drauf, wenn sie im Ausland sind und keiner dabei ist.“
„Ach ja? Jasmin ist auf alle Fälle nicht locker drauf. Ein Kaktus wäre nahbarer. Sie läuft rum wie ein wandelnder, schwarzer Stoffberg und wollte zuerst kein Wort mit mir reden.“
Ara hatte sich im Schneidersitz auf den Esstisch gehockt und hob die fast leere Weinflasche und die halb leere Likörflasche hoch, die er noch nicht abgeräumt hatte.
„Aber ich schätze, das hat sich geändert, nachdem du ihr das alles eingeflößt hast?“
„Es hat ihr geschmeckt!“, verteidigte er sich.
„Aha“, meinte Ara vergnügt und fischte zielsicher die schwarzen Kopftücher vom Stuhl, „und einen Striptease hat sie gleich auch noch für dich gemacht, was?“
Ara meinte das scherzhaft, doch es reichte, um seinen Frust wieder hochkommen zu lassen.
„Hör auf, mich zu nerven, Ara. Das macht Jasmin schon zur Genüge.“
„So schlimm?“
„Noch schlimmer. Wobei ich nicht verstehe, warum sie zwei riesige Koffer dabeihat, wenn sie doch nur in diesem schwarzen Sack rumläuft.“
„Das ist kein schwarzer Sack, sondern eine Abaya und obendrein aus edelstem Stoff.“ Ara ließ das federleichte Gewebe durch ihre Finger gleiten. „Außerdem trägt sie ganz normale, westliche Kleidung.“
„Ach ja? Wann denn?“
„Nicht wann, sondern wo, müsstest du fragen. Sie trägt alles unter ihrer Abaya und die zieht sie aus, sobald sie unter Frauen ist. Das ist eben ihre Kultur.“
„Und warum zieht sie das schwarze Zeug dann hier nicht aus? Sie hat einen tollen Körper und sollte ihn nicht verstecken.“
„Du musst lernen, sie zu verstehen, Ben.“
„Wie kann man so etwas verstehen?“
Arabella grinste von einem Ohr zum anderen und sprang leichtfüßig vom Tisch.
„Ich gebe dir gern eine Lektion.“ Und weil sie eh nicht fragte, ob er die Lektion überhaupt haben wollte, redete sie sofort weiter: „Du hast doch auch einen tollen Körper und schämst dich nicht seiner, oder?“
Das war eine Fangfrage, ganz sicher! Leider fand er den Haken nicht, also nickte er.
„Und wir kennen uns – du hast also keine Angst vor mir, oder?“
„Ja und nein. Worauf willst du hinaus?“
„Ich finde, du solltest deinen heißen Body und deinen super knackigen Hintern nicht verstecken, denn du bist eine Augenweide. Also geh bitte und zieh dir eine Badehose an, jetzt gleich, okay?“
„Hast du einen Knall, Ara? Warum sollte ich in Badehose vor dir posieren?“
„Wieso? Findest du, dass eine Badehose ein unanständiges Kleidungsstück ist?“
„Nein, aber …“
„Im Schwimmbad hast du doch auch eine an und ich hab dich schon mal darin gesehen und für die Prachtstücke zwischen deinen Beinen brauchst du dich ganz sicher nicht zu schämen. Also los jetzt! Husch, husch!“
Sie vollführte mit den Händen eine scheuchende Geste, wobei ihr Grinsen und die Augen verrieten, dass sie sich köstlich amüsierte. Auf seine Kosten!
„Komm schon, Ben! Woanders auf der Welt laufen sie den ganzen Tag nur mit Lendenschurz herum.“
„Ja! Aber nicht bei uns!“
Mit einem Siegerlächeln trat sie direkt vor ihn und tätschelte ihm die Wange. „Siehst du? Unsere Kultur erlaubt nicht, dass du in knackiger Badehose zum Bäcker gehst und Brötchen kaufst – was sicher ein spitzenmäßiger Anblick wäre, Bran.“ Sie zwinkerte ihm belustigt zu. „Und in diesem Königreich geht man als anständige Frau eben nicht ohne Abaya und Schleier aus dem Haus und plaudert auch nicht quietschvergnügt mit fremden Männern.“
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