1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Ihm blieb ebenfalls die Luft weg. Ein Faustschlag mit voller Wucht auf seinen Solarplexus hätte ihn nicht heftiger treffen können.
Bevor er jedoch etwas sagen konnte, schob Agnus die dunkle Verbindungsscheibe zwischen Fahrerkabine und dem hinteren Teil zurück und warf ihm einen breiten, schwarzen Seidenschal zu.
„Wir sind bald da, Ben. Abadin hat mir gesagt, ein Vampir kann Jasmin weder in Schlaf versetzen noch ihre Erinnerung löschen, also müssen wir ihr die Augen verbinden.“
Kaum dass er es gesagt hatte, schloss Agnus die Scheibe auch schon wieder.
Ein Blick auf Jasmin und ihm war sofort klar, dass das Schwierigkeiten geben würde. In blankem Entsetzen starrte sie auf das schwarze Tuch.
„Die Lage des Hauptquartiers muss geheim bleiben, tut mir leid. Unsere Feinde würden vor nichts zurückschrecken, um an diese Information zu kommen.“
Es frustrierte ihn zutiefst, die Veränderung bei Jasmin zu beobachten. Gerade hatte sie begonnen, sich zu entspannen und wenigstens ein klein wenig zu öffnen – nun schüttelte sie mit vor Schreck geweiteten Augen den Kopf und presste sich an die Wagentür. Alarmiert beobachtet Ben, wie Jasmin, ohne hinzusehen, panisch mit ihrer Hand nach dem Türgriff tastete. Nur noch Zentimeter, dann würden ihre Finger den Griff erreichen.
In ihrer derzeitigen Position würde die Tür durch ihr Gewicht aufschwingen und sie mit dem Rücken voraus auf der Fahrbahn aufschlagen. Mit etwas Pech würden die Hinterräder des SUV oder die eines nachfolgenden Fahrzeugs sie überrollen.
Das würde er auf keinen Fall zulassen!
Nichts und niemand durfte Jasmin verletzen, auch nicht sie selbst!
Ohne sie festzuhalten, gab es auf die Schnelle aber nur eine Lösung: Er drückte die zentrale Verriegelung.
Jasmin begriff sofort, dass sie nun mit ihm eingesperrt war, und begann verzweifelt, mit aller Kraft am Griff zu zerren – natürlich erfolglos.
Nach all dem, was Jasmin im Laufe dieser Nacht schon hinter sich hatte, tat es ihm in der Seele weh, sie erneut in bodenlose Furcht zu versetzen.
„Sch, keine Panik. Ich wollte nur nicht, dass du dich verletzt.“
Er legte den Seidenstoff in einer deutlichen Geste zur Seite und hob beschwichtigend seine Hand.
„Wir können das auch anders regeln, okay?“
Jasmin nickte stumm, ließ ihn aber keine Sekunde aus den Augen.
„Wie wär’s damit: Du legst einfach deinen Kopf in den Schoß und versprichst mir, nicht hochzusehen, bis wir angekommen sind? Wäre das für dich machbar?“
Wieder nickte sie schweigend. Immerhin ließ ihre Hand endlich vom Türgriff ab, doch leider zog sie damit nun blitzschnell den breiten Seidenschal an sich.
Mit ein paar Handgriffen verwandelte sie das Ding innerhalb von Sekunden in einen Schleier, der bis auf die Augen alles vor ihm verbarg – was ihn ausgesprochen ärgerte. Nun legte sie auch noch den Kopf in ihren Schoß und damit hatte er nicht mehr als ein schwarzes konturloses Etwas vor sich.
Er schüttelte den Kopf und nur mit Mühe gelang es ihm, ein erneutes Knurren zu unterdrücken.
Warum rege ich mich eigentlich so auf? In ein paar Minuten gehen wir getrennte Wege, bis dahin werde ich weder ihre Einstellung noch ihr Leben ändern können.
Manche Dinge sind einfach, wie sie sind.
Als er auf seine Hände blickte, stellte er fest, dass sie zu Fäusten geballt waren.
Der Krankenwagen fuhr direkt vor ihnen in die riesige, unterirdische Garage des Wächterhauptquartiers.
Sobald der SUV stand, entriegelte Ben die Autotüren.
„Wir sind da. Du kannst aussteigen.“
Sie schaute auf, aber nur noch die strahlend smaragdgrünen Augen erinnerten an Jasmin, die unter diesem schwarzen Gewand verborgen war.
„Danke“, sagte sie und reichte ihm seine Lederjacke, die achtlos auf dem Boden gelandet war, als sie sich aus seinen Armen gekämpft hatte. Wärme und tiefe Dankbarkeit lagen in diesem einen Wort und in dem Blick aus ihren wunderschönen Augen, den sie ihm für einen kurzen Moment schenkte.
Dann schaute sie wieder zu Boden, drehte ihm den Rücken zu und stieg aus – ohne einen einzigen Blick zurück.
Alles, was er noch sah, war schwarzer Stoff, der sich bewegte. Jasmin hatte sich wieder in eine Anonyme verwandelt, die sich und ihre Schönheit hinter Schleiern versteckte.
Er folgte ihr – nur mit Blicken – als sie schnurstracks zu ihrem König eilte, der neben der fahrbaren Liege stand, auf der seine Lieblingsfrau lag.
Ben schüttelte den Kopf über seinen törichten Wunsch, Jasmin hätte noch etwas zu ihm gesagt. Der angenehm weiche Klang ihrer Stimme hatte ihm so gut gefallen – zumindest, wenn sie ihn mal nicht anfauchte.
Als Ben beobachtete, wie die kleine Gruppe zur Krankenstation aufbrach und Jasmin wie ein wandelnder Schatten wortlos folgte, spürte er einen Stich in seinem Herzen.
„Das geht mich nichts mehr an“, presste er halblaut hervor, stieg aus und schlug mit dem Handballen die Wagentür zu.
Agnus, der ebenfalls ausgestiegen war, hob eine Augenbraue: „Dafür, dass du endlich vernünftig geworden bist, ist die Delle aber ziemlich groß.“
Ben starrte verdutzt auf die Autotür, die er gerade eingebeult hatte.
„Reagier dich gefälligst im Trainingsraum ab.“
Schuldbewusst wollte er sich gerade auf den Weg machen, als Agnus’ Worte ihn noch einmal stoppten: „Nachdem du diese Beule wieder rausgemacht hast!“
Etwa zwei Stunden später führte Agnus Abadin in die große Bibliothek mit den deckenhohen Bücherregalen aus dunklem Palisander. Sein alter Freund hatte ihn darum gebeten, ungestört mit ihm zu reden. Da sein Büro mit Glaswänden ausgestattet war, schien ihm dieser Raum passender.
Agnus steckte gerade sein Handy weg. Auf Abadins ausdrücklichen Wunsch hatte er Elia angerufen und ihn mit Sarah ebenfalls herbestellt. Elia wusste noch nicht, wer ihn hier erwartete, und das war auch besser so.
Sie setzen sich auf die edlen Seidensessel, Originale aus der Zeit und im Stil Louis XV. mit zugehörigem Beistelltisch. Agnus hasste diese vergoldeten Dinger mit den dünnen Beinchen, doch sein Freund mit dem goldverzierten Gewand passte hervorragend dazu. Abadin wirkte genau so, als würde er auf seinem Thron sitzen und Audienz halten – ein Herrscher, durch und durch.
Agnus begann, sich unwohl zu fühlen. Die ganze Sache bescherte ihm ein mieses Bauchgefühl …
„Ich danke dir für die Dienste deiner Heilerin. Eine so erfahrene Frau mit solch einer kostbaren Gabe wüsste ich sehr zu schätzen. In meinem Land würde ich sie mit Ehre und Reichtum überschütten.“
„Alva ist meine Frau. Vergiss das nicht, Abadin. Oder hast du vor, um sie zu kämpfen?“
Agnus glaubte das nicht wirklich, aber immerhin hatte er es mit Abadin Said zu tun und eine kleine Warnung konnte nicht schaden.
Abadin grinste amüsiert. „Es wäre äußerst unklug, sich mit dem Anführer der Wächter messen zu wollen.“
Agnus grinste zurück, aber eher mit dem Charme eines angriffslustigen Grizzlys.
„Ich möchte dir auch für deine Gastfreundschaft danken, Agnus, und dass meine Frau Aisha bei dir in Ruhe genesen darf.“
„Du warst es, der mich die Bedeutung der Gastfreundschaft vor langer Zeit gelehrt hat, Abadin. Außerdem hast du meine Frau ja gehört: Aisha darf vorerst nicht bewegt werden und sie möchte den Heilungsprozess ihrer Nervenbahnen im Auge behalten.“
Außerdem hätte Abadin in einem Krankenhaus sicher Erklärungsnöte, was die wundersame Knochenheilung betraf.
„Ja, die Gastfreundschaft ist eines der wichtigsten Dinge in unserer Kultur und ich freue mich, dass du dich daran erinnerst. Ich habe eine große Bitte an dich, mein Freund.“
Aha – irgendwas war im Busch, das hatte er doch gleich geahnt.
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