„Wenn sie doch eine Gefangene ist, warum sperrst du sie nicht gleich unten in eine der Zellen?“
„Sie ist keine Gefangene.“
„Verarsch mich nicht, Agnus! Ihre Ketten sind nur unsichtbar und ihr macht mich zu ihrem Wärter!“
Ben schnappte sich den Wisch des Königs und marschierte kochend vor Wut zur Tür.
Hinter sich hörte er ein Seufzen.
„Ben?“
Er drehte sich nicht um und blieb auch nur stehen, weil das fast nach einer Bitte klang.
„Versuch, nett zu ihr zu sein.“
„Soll ich etwa eine Stadtrundfahrt machen und mit ihr Eis essen gehen?“
„Warum denn nicht? Und jetzt hau ab.“
Zornig stapfte Ben durch die unterirdischen Gänge.
Nett? Nett! Dieses Wort passt so gut zu Agnus’ Sprachgebrauch wie eine rosa Schleife zu einem Breitschwert!
Dass sein Anführer sich derart manipulieren ließ und so einer Sache zustimmte, hätte er nie gedacht.
Er schlug den Weg zur Krankenstation ein, wo Jasmin sich befinden sollte. Wenn es schon sein Auftrag war, sich um sie zu kümmern, dann wollte er zuallererst von Alva wissen, ob sie bei Jasmin eine Gehirnerschütterung, einen Schock oder angeknackste Rippen diagnostiziert hatte.
Mit jedem Schritt, den er Jasmin näher kam, fühlte er sich auf seltsame Art wohler. Nichtsdestotrotz war ihm klar, dass sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit gleich wieder in die Haare kriegen würden – besser gesagt, in den Schleier, denn ihre Haare bekäme er ja gar nicht zu Gesicht!
Kurz vor der Krankenstation wurden seine Schritte langsamer, denn er hörte, wie der König drinnen mit Jasmin redete …
„In zwei Stunden startet mein Flugzeug, Jasmin. Bleib bei Aisha und kümmere dich gut um sie.“
„Sehr gerne, mein König. Ich werde ihr für die Fahrt zum Flughafen warme Decken besorgen und die Ärztin fragen, was ich zu beachten habe.“
„Aisha darf in den nächsten Tagen nicht bewegt werden. Du wirst mit ihr hierbleiben.“
Ben wartete auf ihre Reaktion: eine Sekunde, zwei Sekunden, dann hörte er von drinnen ein Geräusch, als ob sich Jasmin vor ihrem König auf den Boden geworfen hätte.
Aha, jetzt war ihr wohl die ganze Tragweite bewusst geworden – willkommen im Club!
„Mein König“, ihre Stimme klang entsetzt, „ich flehe Euch an! Dieses Haus hat sicher keinen abgetrennten Frauenbereich, keinen Harem! Hier sind überall Männer und ich bin eine schutzlose Frau.“
„Ich habe für deinen Schutz gesorgt …“
Abadin informierte sie kurz und knapp.
„… und als Familienangehöriger ist Ben-Yamin nun ab sofort für dich verantwortlich. Er hat das Recht und die Pflicht, dich zu begleiten und dich zu beschützen.“
„Und wer beschützt mich vor ihm?“, war Jasmins rebellischer Kommentar.
Ben spürte, wie die Aura von Abadin auf der anderen Seite der Tür knisterte.
„Ich erlaube dir nicht, die Ehre dieses Wächters anzuzweifeln, geschweige denn meine Entscheidung!“
Obwohl Ben im Flur stand, spürte er selbst dort, ähnlich wie bei Agnus, eine Welle von Macht. Diese hier fühlte sich allerdings an wie tausend kleine Nadelstiche.
Ist diesem blöden Mistkerl überhaupt klar, was er Jasmin gerade antut?
Er war kurz davor, die Tür aufzureißen und Abadin kräftig in seinen königlichen Hintern zu treten.
Er konnte sich gut vorstellen, dass Jasmin drinnen gerade mit ihren Zähnen knirschte. Und bei ihrem nächsten Satz ahnte er, dass ihre Angst wieder einmal in Wut umgeschlagen war.
„Darf ich Euren Dolch gebrauchen? Gilt Euer Wort auch für diesen Mann, an diesem Ort?“
So war sie, die mutigste Frau, die er je kennengelernt hatte! Sie wollte es tatsächlich mit einem Vampir aufnehmen, noch dazu mit einem Wächter – nur mit ihrem Dolch.
Ihm wäre ein Lächeln über die Lippen gehuscht, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre. Vermutlich unterdrückte der König drinnen auch gerade sein amüsiertes Grinsen.
Dennoch hatte Jasmin ihre Entschlossenheit in dieser Nacht bereits unter Beweis gestellt. Unwillkürlich fasste sich Ben an den Hals. Er traute ihr sogar zu, dass sie sich nachts an sein Bett schlich, um ihm die Kehle durchzuschneiden.
Das kann ja heiter werden.
„Mein Wort gilt immer!“, donnerte drinnen die Stimme von Abadin und es klang, als würde er jedem anderen, der seine Worte infrage stellte, umgehend den Kopf abschlagen. Nein, wohl eher die Kehle herausreißen.
„Du wirst diesen Krieger nicht beleidigen, Jasmin! Ehre die Gastfreundschaft, indem du dich ihren Gebräuchen anpasst. Das ist mein Befehl!“
Wieder schwappte eine Welle von Macht bis zu ihm. Er fühlte sich mittlerweile wie ein Nadelkissen, Jasmin bestimmt ebenfalls.
Zeit, dass dieses Machtspiel endlich aufhört!
Doch bevor er die Hand am Türknauf hatte, sprang sie schon auf. Der König trat in den Flur und schien keineswegs überrascht, ihn zu sehen.
„Du hast meine Frauen gerettet. Ich stehe tief in deiner Schuld und es kommt der Tag, an dem ich meine Schulden begleichen werde.“
Du arroganter Macho kannst dir deinen Dank sonst wo hinschieben!
Ben biss die Zähne zusammen und rang um Beherrschung. Normalerweise sprang er nur Gesetzlosen an die Gurgel, aber bei diesem König hätte er wirklich gerne eine Ausnahme gemacht.
Als Benjamin kurz darauf die Krankenstation betrat, bot sich ihm folgendes Bild:
Alva sah völlig erschöpft aus und machte gerade die Übergabe an Sarah. Nebenher hängte die Ärztin noch Infusionen an und überprüfte mit einem kritischen Blick alle Überwachungsgeräte. Er ließ seinen Blick ebenfalls darüber schweifen und sah, dass Aishas Werte im grünen Bereich lagen. Die Heilung von Aisha musste Alva jedoch an den Rand ihrer Kräfte gebracht haben. Agnus würde hoffentlich dafür sorgen, dass sich seine Frau ausruhte und sie mit seinem Vampirblut stärken.
Was ihm allerdings an der ganzen Szene sofort sauer aufstieß, war die Tatsache, dass sich anscheinend alles nur um die Lieblingsfrau des Königs drehte.
War Jasmin denn weniger wert?
Keiner schien sich darum zu kümmern, dass Jasmin – die an Aishas Bett stand und ihre Hand hielt – schwankte und wirkte, als würde sie gleich umkippen.
Diese Situation fachte seine Wut aufs Neue an.
Im Bruchteil einer Sekunde schnappte er sich einen Stuhl und schob ihn Jasmin unter den Hintern.
„Setz dich gefälligst!“
Super! Jetzt maulte er Jasmin auch noch wütend an, dabei konnte die ja nun wirklich nichts dafür.
Wenigstens ließ sie sich ohne Diskussion seufzend darauf fallen, allerdings auch ohne ihm ein einziges Wort oder einen Blick zu schenken.
Davon nicht gerade besänftigt, marschierte er zu der gähnenden Ärztin und unterbrach sie rüde. So etwas war eigentlich nie seine Art gewesen, aber seit seiner Begegnung mit Jasmin schien sein Verhalten eine einzige Aneinanderreihung von Ausnahmen zu sein.
„Alva, hast du Jasmin auf Gehirnerschütterung und gebrochene Rippen untersucht? Ihre Vitalwerte überprüft?“
„Sie sagte, es geht ihr gut.“
„Glaubst du immer alles, was die Leute dir sagen?“
Alva runzelte die Stirn.
Knurrend stapfte er zum großen Arztschrank und zog ein paar Schubladen auf.
„Ben?“
„Wenn sich hier keiner um Jasmin kümmert, dann werde ich das eben tun“, knurrte er.
„Tu, was du nicht lassen kannst, Ben. Du hast ja lange genug in der Notaufnahme gearbeitet“, meinte Alva und gähnte erneut. „Ruft mich einfach an, wenn ihr mich braucht. Das Telefon liegt wie immer neben meinem Bett.“
Alva übergab Sarah die Patientenakte und verließ sichtlich mitgenommen die Krankenstation.
Er hatte sich inzwischen Latexhandschuhe übergezogen und marschierte nun mit einem Blutdruckmessgerät und einer kleinen Arztlampe in der Größe eines Kugelschreibers zu Jasmin.
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