Der König nickte nachdenklich. „Gute Dinge sollten sich nicht ändern, mein Freund, nur die schlechten. Ich werde mich noch von meiner Frau Aisha verabschieden und dann Jasmin in die Obhut deines Wächters Ben-Yamin übergeben.“
Agnus wurde noch hellhöriger.
„Du willst diese wunderschöne Jasmin in die Hände eines jungen Mannes geben, Abadin?“
„Du vertraust Ben-Yamin doch, oder?“
„Wie allen meinen Wächtern würde ich ihm mein Leben anvertrauen, aber …“
Ben war schließlich ein Mann! Er hatte Augen im Kopf und eine Hose, in der nicht nur Beine steckten.
Abadin unterbrach ihn, doch der wusste mit Sicherheit, was er hatte sagen wollen.
„Das genügt mir, Agnus. Dein Schreiber soll ein Dokument aufsetzen …“
„Aber mir genügt das nicht, Abadin! Sag mir den Grund, warum du deine Frau, die noch dazu eine Symbiontin ist, einfach hierlässt.“
„Jasmin ist noch nicht meine Frau, aber ich wünschte, sie wäre es. Meinst du nicht, ich würde gern das Schicksal deines Schreibers teilen und mit ihr als meiner Gefährtin glücklich sein? Aber das ist eine lange Geschichte …“, wiegelte der König ab und wandte sich schon der Tür zu. Agnus ahnte, dass er etwas Wichtiges zurückhielt.
„Das hier ist ein freies Land und wir werden Jasmin hier nicht einsperren“, köderte er Abadin.
„Du darfst auf keinen Fall zulassen, dass sie flieht! Jasmins Gedächtnis kann nicht gelöscht werden und sie kennt das Geheimnis unserer Natur, Agnus.“
„Dann sag mir besser, was du vor mir verschweigst, Abadin.“
Der König nahm so erschöpft wieder in dem vergoldeten Sessel Platz, als trüge er die Last der halben Welt auf seinen Schultern.
„Mein Land ist groß, und was Jasmin widerfuhr, geschah in einer der entlegensten Provinzen im Süden meines Reiches. Als König habe ich unzählige Aufgaben, und als ich durch den ausländischen Zeitungsbericht einer Frauenrechtsorganisation Kenntnis davon erhielt, war das Urteil bereits gesprochen und ein Teil der Strafe schon vollstreckt.“
„Das Urteil war nicht gerechtfertigt?“
„Es war nicht nur das Urteil, mein Freund. In meinem Land leben viele unterschiedliche Stämme, die nur durch die uralten Traditionen und den Koran vereint sind. Das Land würde auseinanderbrechen und sich in Stammeskriegen aufreiben, wenn ich von heute auf morgen alles radikal auf den Kopf stellen würde. Der Wandel muss langsam stattfinden, damit das Herz meines Volkes Schritt halten kann. Und auch wenn ich König bin, könnte ich jederzeit vom Thron gestürzt werden, falls die mächtigen Familienclans sich gegen mich stellen …“
Als Abadin das Ende seiner Geschichte erreichte, ließ Agnus die Stuhllehne los. Aus seiner Hand fiel zerbröseltes Holz.
„Einfach zu zierlich für mich“, meinte er lapidar.
Abadin blickte auf die zerstörten Armlehnen und lachte freudlos. „Als Aisha damals erfuhr, was Jasmin durchgemacht hat, musste sie sich übergeben.“
Agnus war eher danach, ein paar Männern die Knochen in ihrem Leib zu zertrümmern.
„Ich habe ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und Jasmin in meinen Palast bringen lassen.“
„Lass mich raten: Sie entdeckte dabei deine Vampirnatur und du konntest sie nicht mehr gehen lassen?“
„Jasmin war in einem erbarmungswürdigen Zustand und vielleicht hätte sie die nächsten Tage nicht überlebt. Sie war wunderschön und noch recht jung, und als ich die Blüte der Ewigkeit an ihr entdeckte, zwang ich sie, mein Blut zu trinken. Ich wollte anschließend ihre Erinnerungen daran löschen, wollte ihr einen neuen Anfang und eine Zukunft in meinem Palast geben – doch das war leider unmöglich.“
Es gab nur sehr selten Menschen oder Symbiontinnen, bei denen das Löschen eines kurzen Zeitraums nicht möglich war, das wusste Agnus.
„Weil sie seit diesem Tag das Geheimnis unserer Natur kennt, behielt ich sie im Frauenbereich meines Palastes, dem Harem, denn dort hat kein Fremder und schon gar kein Reporter Zugang. Ich hoffte, die Zeit würde alle ihre Wunden heilen.“
„Aber das tut sie nicht immer.“
„Ja, das habe ich heute einmal mehr an Sarah erkannt. Ihre Furcht vor mir ist noch fast genauso groß wie vor über 600 Jahren.“
Abadin stand auf.
„Diese ganze Angelegenheit und meine Beteiligung an dieser Sache muss unter uns bleiben, Agnus, denn meine Souveränität als König darf nicht infrage gestellt werden. Ich muss dich deshalb um dein Wort bitten.“
Agnus wäre es lieber gewesen, Ben in alles einzuweihen, doch er sah an Abadins Gesichtsausdruck, dass er nicht mit sich handeln lassen würde.
„Ich werde darüber schweigen, du hast mein Wort.“
„Das kann nicht dein Ernst sein, Agnus!“, rief Benjamin außer sich und sprang vom Stuhl in dessen Büro.
Sein Anführer saß hinter seinem Schreibtisch und sah ihn eindringlich an. Augenblicklich hatte Ben das Gefühl, eine Welle purer Autorität würde ihn überrollen wie eine Brandungswelle. Beinahe wäre er einen Schritt rückwärts getaumelt.
„Hier hast du es schwarz auf weiß! Frisch von Elias Schreibtisch mit dem Herrschersiegel des Königs.“
Agnus schob ihm ein Dokument zu. Das Wachs war noch warm.
„Abadin hat dich offiziell zum Kreis der Familie erklärt, damit es dir als Mann überhaupt gestattet ist, in Jasmins Nähe zu sein und mit ihr zu sprechen. Einen anderen männlichen Begleiter oder Beschützer würde ihr Gesetz und ihre Kultur nicht zulassen und der König würde sein Gesicht verlieren, immerhin ist er ihr Vormund.“
„Scheiß auf diesen König! Und zum Teufel mit ihren Gesetzen!“
Diesmal traf ihn Agnus’ Autorität so heftig, dass er mit einem Wums auf seinem Stuhl landete. Er hatte schon mal von der wortwörtlichen Wucht von Agnus’ Autorität gehört, doch noch nie hatte sein Anführer ihn diese Stärke spüren lassen – bis heute.
„Der König hat bereits veranlasst, dass ihr Gepäck aus dem Hotel hierher gebracht wird. Jasmin wird im Gästequartier neben deinem untergebracht“, erklärte Agnus, während er Papiere auf seinem Schreibtisch durchsah.
„Ich glaube kaum, dass Jasmin damit einverstanden ist.“
„Sie wird informiert“, meinte sein Anführer und blickte dabei noch nicht einmal auf.
Das machte Ben stinksauer.
„Klingt nicht, als ob er Jasmin gefragt hätte!“
„Das muss er auch nicht. Er ist ihr König und Vormund.“
Ben ballte seine Hände zu Fäusten.
Vormund – wozu brauchte eine erwachsene Frau überhaupt einen Vormund?
Dass ein anderer sich einfach das Recht herausnahm, über Jasmins Leben zu bestimmen, ließ ihn vor Wut kochen.
„Dieser König …“, setzte er zornig an, doch Agnus unterbrach ihn: „Schluck’s runter, Ben. Außerdem denkt Abadin, du wärst der Richtige für diese Aufgabe.“
„Was? Diese Frau ist mir ein schwarzes, verschleiertes Rätsel! Sie spricht nicht mit mir. Sie sieht mich noch nicht einmal an. Und ich glaube, sie würde sich von mir nur mit einer Kneifzange anfassen lassen.“
„Das versuchst du am besten erst gar nicht.“
„Ich bin Wächter, Agnus!“, begehrte er abermals auf, „Wenn sie einen Bodyguard braucht, frag Rose. Die hat hervorragende Kontakte.“
Auch wenn es ihn geradezu magisch in Jasmins Nähe zog, stand ihm doch klar vor Augen, wie er sich in ihrer Gegenwart verhalten hatte: zornig, unbeherrscht, ja, geradezu aggressiv. Das Ganze würde unweigerlich in einem Desaster enden.
„Du sagst es, Ben. Du bist ein Wächter und damit stehst du unter meinem Befehl. Muss ich noch deutlicher werden?“
Diesmal blieb ihm fast die Luft weg, als Agnus’ Autorität ihn mit unsichtbarer Macht in den Stuhl drückte.
„Du hast hiermit deinen Auftrag und bist von deinen anderen Pflichten vorerst entbunden. Eine Sache noch: Jasmin weiß von unserer Natur. Sie darf nur hier vom Hauptquartier aus telefonieren, wo Elia ihre Anrufe und ihre Internetaktivitäten überwachen kann. Du wirst dafür sorgen, dass sie dir auf gar keinen Fall entwischt, und trägst dafür die volle Verantwortung. Lass sie niemals aus den Augen und meide Botschaften, in denen sie Asyl beantragen könnte. Und jetzt raus hier.“
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