Frank stand auf und warf einen letzten Blick auf Praia do Vidigal und die bunten Häuser, die sich an den Hang des Kegelberges schmiegten. Hier war die Strandzone Rios zu Ende, weiter ging es nicht. Frank dreht sich um, ging zur Bushaltestelle und nahm den Bus zur Copacabana.
Als er zurückkam, erwartete ihn eine Überraschung. Eddy lag genau an der Stelle des Strandes, an der er ihn vor einigen Stunden verlassen hatte und schlief. Ob noch immer, oder schon wieder, wusste Frank nicht. Aber um Eddy herum lagen eine offene Geldbörse, ein Gürtel und ein Buch. Der Rucksack, auf den der schlafende Eddy seinen Kopf gelegt hatte, war geöffnet worden, jemand hatte Eddy bestohlen, und er hatte nichts bemerkt.
Als Frank Eddy an der Schulter rüttelte, wurde Eddy zuerst überhaupt nicht wach. Dann rekelte er sich, bekam kaum die Augen auf und blickte Frank überrascht an.
„Du bist beklaut worden“, stieß Frank hervor und wies auf die Gegenstände im Sand. „Du bist beklaut worden, während du gepennt hast. Wie ist denn so was möglich?“
Frank blickte sich um und sah die gleichmütig in der Sonne brutzelnden Strandnachbarn, eine Familie, einen jungen Mann, zwei mittelalte Frauen. Wie tief auch immer Eddys Schlaf gewesen sein mochte, den Dieb und den Diebstahl mussten alle gesehen haben, und niemand war eingeschritten.
Eddy fasste sich an den Kopf und schien noch nichts zu verstehen. „Herrje, mir brummt der Schädel, ich könnte glatt weiterschlafen. Der Capirinha am Strand bekommt mir nicht.“
Frank sammelte die Sachen auf, die im Sand lagen. Die Geldbörse war leer, einige Meter weiter lag Eddys Hose, durchsucht und achtlos weggeworfen.
Frank reichte Eddy die leere Geldbörse. „Gute Nachricht: der Ausweis ist noch drin. Schlechte Nachricht: das Geld ist weg. Wieviel war denn drin?“
Eddy durchsuchte seine Geldbörse. „Knapp einhundert Dollar. So ein Mist“
Frank sah, dass Josephs Erfrischungsstand nicht mehr da war. „Hast du dir bei Joseph was zu trinken bestellt?“ fragte er.
„Ja, zwei Capirinhas.“
„Und? schmeckten die ein wenig sonderbar?“ fragte Frank.
„Nö, die schmeckten gut, aber nachher war ich natürlich müde und hab mich noch mal aufs Ohr gelegt.“
Was es mit Joseph und seinen Capirinha auf sich hatte, war nicht mehr zu erfahren. Auf eine Anzeige bei der Polizei verzichteten sie. Joseph würde seine Hände in Unschuld waschen. Außerdem würden erhebliche Zweifel an der Zurechnungsfähig eines Touristen aufkommen, der sich mit einhundert Dollar an den Strand der Copacabana schlafen legte. Eddy würde den Polizisten ja schlecht erklären können, dass er das Geld nur für besondere Gelegenheiten mitgenommen hatte.
Als sie ins „Monte Blanco“ zurückkamen, hatte sich Eddy wieder gefasst. Der Diebstahl von einhundert Dollar war zwar ärgerlich, aber nichts wirklich Tragisches. Davon durfte man sich den letzten Abend in Rio auf keinen Fall kaputtmachen lassen. „Aber kein Wort über die Strandsache zu diesem Schwarzwälder“, befahl er.
Martin hatte die Verabredung nicht vergessen. Kaum hatten sie geduscht, klopfte er an ihre Zimmertüre und fragte, ob sie fertig seien.
Eddy hatte sich umgezogen, mit frisch gewaschenen Haaren stand er vor dem Spiegel und legte ein Gesichtswasser auf. Er trug eine frische Jeans, ein sauberes Hemd und zum ersten Mal seine blitzblanken Schuhe. Der Diebstahl vom Strand schien vergessen. „Gehst du mit?“ fragte er.
Frank stand auf und steckte das Hemd in die Hose. „Na gut. Immerhin ist es ja unser letzter Abend in Rio.“
Da sie zu dritt waren, nahmen sie ein Taxi bis zur Copacabana. Martin, der Kettenraucher, Eddy der Herausgeputzte und Frank, der Unschlüssige, der einmal in Rio an der Sünde schnuppern wollte. Für die Aleijadinho-Skulpturen von Congonhas do Campo würde auch in der nächsten Woche noch Zeit sein.
Aber sie waren zu früh unterwegs. In den Straßenlokalen waren fast nur Männer zu sehen – und was das Unangenehmste war: vor allem männliche Touristen, was die Preise treiben würde. „Verdammt“, rief Eddy. „Das ist ja tote Hose. Wo stecken denn all die Weiber?“
Martin schüttelt den Kopf. „Du bist viel zu ungeduldig, lass doch einfach mal die Atmosphäre auf dich wirken. Alles andere wird sich schon finden.“
Im „Bossa Nova“ wurde Martin wie ein alter Bekannter begrüßt. Sie erhielten einen guten Tisch auf der Terrasse und bestellten erst einmal ein Abendessen.
„Ich kann kein Fleisch mehr sehen“, stöhnte Frank. „Was gibt es denn hier sonst noch?“
Eddy und Martin zuckten mit den Schultern und verspeisten ihre Riesensteaks. Zerlumpte Kinder spielten vor dem Restaurant, was keinen zu stören schien, ebenso wenig, dass die Gäste die Fleischstücke, die sie nicht mehr essen konnten, in hohem Bogen den Kindern zuwarfen, als wären es junge Hunde.
Zwei Mulattinnen von undefinierbarem Alter erschienen und setzten sich an den Nebentisch. Gesichter wie Rachegöttinnen, Lederröcke, dicke Beine mit knotigen Knien, Frank mochte gar nicht hinsehen, doch Eddy war Feuer und Flamme und glotzte die beiden Frauen unverhohlen an. Eine von beiden hatte es ihm angetan. Frank hatte keine Ahnung, welche es sein könnte, denn für ihn waren beide gleich hässlich. Es dauert nicht lange, da erhob sich eine der beiden, kam an ihren Tisch und bat um Feuer – leider die falsche. Die andere Frau hatte nach Eddys Schnellanalyse den größeren Busen, und Kompromisse waren heute nicht angesagt. Die und keine andere musste es sein. Die Frau, die an ihren Tisch gekommen war, musste mit ihrer angezündeten Zigarette wieder abziehen. Aber für die andere war es jetzt auch zu spät. Einer der Männer von den Nachbartischen hatte sich schon zu Eddys Favoritin gesellt. Die beiden schauten sich an, taxierten sich, verhandelten kurz und gingen. Die andere trottete mit. Alles vorbei.
„Das ist doch ein Scheißladen“, schimpfte Eddy. „Ist das hier ein Schwulentreff?“
„Junge, Junge, du hast aber Druck auf der Leitung“, bemerkte Martin. „Willst du dir nicht fürs erste auf der Toilette einen runterholen?“
Wieder diese unwirkliche Stimmung, wieder der falsche Film. Frank wünschte, er befände sich jetzt in seinem Hotelzimmer und würde Jorge Amado lesen. Von den leichten Mädchen in Bahia zu lesen, war angenehmer, als ihre Nähe in Rio zu ertragen.
„Ok, wir können ja das Lokal wechseln“, lenkte Martin ein. „An der nächsten Ecke ist das `Carlito´, da ist vielleicht mehr los.“
Als sie das Lokal verließen und weiterschlenderten, wurde es belebter. Die Bürgersteige hatten sich mit Flaneuren gefüllt, die sich im Malsehenwaskommt-Modus vorwärts bewegten. An kleinen Marktständen wurden T-Shirts und Kondome verkauft, eine alte Frau saß auf einem Hocker und bot Horoskope an. Und plötzlich waren auch die leichten Mädchen da. Als wären sie gerade erst zur gemeinsamen Nachtschicht eingetroffen, standen sie von einer Minute zur nächsten auf der Straße, an den Ecken und vor den angesagten Bars und antichambrierten so gut sie konnten.
Ohne Vorwarnung sprang eine grell geschminkte Vierzigerin aus einem Hauseingang heraus, griff Frank rabiat am Arm und röhrte „Super Sex! Super Sex!“ Ehe Frank antworten konnte, griff sie ihm in den Schritt. Es war ein harter, fordernder Griff, der eher an Folter als an Lust denken ließ. Frank riss sich los und rief „Casados, casados“, ehe er leicht trabend flüchtete. Eddy und Martin lachten. Warum musste ausgerechnet ihm das passieren?
Als sie das „Carlito“ erreichten, kam es Frank so vor, als betrete er die irdische Entsprechung von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“, nicht nur, weil es so viele Gestalten waren, die sich umeinander schlängelten, sondern auch, weil der ganze Anblick etwas Surreales hatte. Über die gesamte Gehfläche war ein regelrechter Kontakthof mit dreißig bis vierzig Tischen aufgebaut, an denen Frauen in allen Alters- und Attraktivitätsstufen saßen, rauchten und tranken, während die Freier sie wie Belagerer umkreisten, ehe sie sich selbst an einen der leeren Tische setzten oder eine Frau ansprachen.
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