Als sie nach dem Duschen zum Frühstück herunterkamen, trafen sie auf zwei Polizisten in der Eingangshalle. Einer von ihnen, korpulent, kahlköpfig und von undefinierbarer Hautfarbe, verhörte den Portier, der andere, ein junger Mann mit glatten schwarzen Haaren und tückischem Blick, schaute sich um, ohne Fragen zu stellen.
Martin erzählte, dass offenbar zwei Diebe, ein junges Mädchen und ein junger Mann, mit einem Messer in das Hotel eingedrungen waren. Im ersten Stock hatten sie auf gut Glück mit ihrer Frühstücksnummer an den Türen geklopft, um die Gäste, sobald sie öffneten, zu überraschen und auszurauben. Unklar war, wie sie am Portier vorbeigekommen waren oder ob der Portier mit den Dieben unter einer Decke steckte.
Kurz darauf verließen die Polizisten das Hotel. Sonderlich intensiv recherchiert hatten sie nicht.
Frank, Eddy und Martin holten sich Kaffee, Brot und Konfitüre vom Buffet und setzten sich an den Tisch. „Was macht ihr heute?“ fragte Martin.
„Ich gehe an den Strand“, antwortete Eddy. „Frank geht in die Kirche.“
„Nein, ich gehe heute auch an den Strand“ widersprach Frank. „Es muss auch mal Kulturpause sein.“
„Wollen wir heute Abend zusammen auf die Copacabana gehen? Ich kenne einen guten Laden. Der wird euch gefallen.“
„Gute Idee, ich bin dabei“, stimmte Eddy zu.
„Mal sehen“, meinte Frank.
Eine Stunde später packten Frank und Eddy ihre Strandtasche und fuhren mit dem Bus zur Copacabana. Der kleine Schaffner mit den vier Zehen war wieder im Einsatz und begrüßte sie wie alte Bekannte. Kaum hatten Frank und Eddy ihre Decke an der gleichen Stelle ausgebreitet wie gestern, kam Joseph auch schon herbeigeeilt. Ob denn gestern alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen sei, wollte er wissen.
„Ja, alles wunderbar“, antwortete Eddy.
Und ob sie nicht neue Amigas kennenlernen wollten?
Ehe Eddy antworten konnte, fragte Frank: „Sind denn Janina und Anita auch da?“
Joseph grinste und entblößte eine respektable Zahnlücke. Nein, nein, Anita sei heute geschäftlich unterwegs, gab er zurück, was immer das bedeuten sollte. Und wo Janina stecke, wisse er nicht. Ob er denn nun einen Caipirinha bringen solle oder etwas anderes?
Aber Eddy hatte keinen Durst, und Frank vertröstete Joseph auf später.
Da es noch nicht einmal Mittag war, legte sich Eddy lang auf die Decke, um für den Rest des Tages seine Kräfte zu schonen. Der Nachmittag gestern hatte ihm gut gefallen, und wer wusste, welche Höhepunkte heute noch anstanden.
Frank brauchte seine Kräfte nicht zu schonen. Erotische Abenteuer standen nicht auf dem Programm, Kirchen waren nicht in Sicht, und zum Baden hatte er keine Lust. „Mir ist es zu langweilig, nur hier rumzuliegen“, sagte er, während er aufstand. „Ich laufe mal die Strände entlang. Vielleicht gehe ich sogar bis nach Ipanema.“
„Von mir aus, ich bin hier, und wenn ich wirklich mal weg bin, sage ich einfach Joseph Bescheid“, antwortete Eddy und dreht sich wieder um.
Als Frank seine Strandwanderung begann, fühlte er sich glücklich und frei, ohne zu wissen warum. Der Tag war noch jung, der Wind wehte sachte über den Sand, der Ozean glitzerte, und die wenigen Menschen, die schon zu dieser frühen Stunde an der Copacabana lagen, boten ein Bild des Friedens. Er blickte auf die Galerie der grün bepelzten Morros, die wie freundliche Riesen hinter den Hochhäusern herausragten und nahm sich vor, die gesamte Copacabana und den gesamten Ipanema-Strand bis zur Praia do Vidigal abzulaufen. Vielleicht hatte Eddy ja Recht, vielleicht erschloss sich Rio tatsächlich nicht in erster Linie in seinen Kirchen und Hochhäusern, sondern am ehesten in seinen Menschen, und die hielten sich eben am liebsten an den großen Stränden auf. Vielleicht lief ihm sogar Janina an einem dieser Strände über den Weg. Dass er schon wieder an diese rehäugige junge Frau denken musste, beunruhigte ihn. Andererseits dachte er ja nicht an Janina um Janinas willen, sondern er dachte an Janina, weil sie ihn so fatal an Meike erinnerte. Er durfte auf keinen Fall vergessen, Meike eine Ansichtskarte aus Rio zu schicken.
Nach einer halben Stunde Strandgang hatte sich an der Szenerie, die Frank umgab, kaum etwas geändert – Ozean zur Linken, die Avenida zur Rechten, hinter den Hotelhochhäusern erhoben sich die Morros, alles beschienen von einer tropischen Sonne, vor der heute kein Schatten schützen würde. Ein Erfrischungsstand folgte auf den nächsten, ein Volleyball, ein Fußballfeld, lange Passagen, in denen Familien mit Kindern auf Matten und Liegen lagen. Das Rauschen des Verkehrs vermischte sich mit dem Brausen der Brandung, mit Stimmengewirr und Musikfetzten, die von überall her herüberschallten, eine einlullende Strandsinfonie, auf- und abschwellend, aber immerwährend wie die Brandung des Meeres.
Frank passierte einen Strandabschnitt, in dem vorwiegend homosexuelle Männer ihre Liegen und Decken aufgeschlagen hatten. Manche lagen nackt in der Sonne, andere liefen die Brandung ab und ließen ihr Gemächt im Wind baumeln. Junge Männer umschwirrten alte Knacker, denen die Muskeln erschlafft vom Körper hingen. Ein nackter Mann mit Strohhut saß im Sand und sang ein sehnsüchtiges Lied zur Gitarre, ein anderer Mann, nur mit einem Strandtuch bekleidet, stand vor ihm und bewegte seinen Oberkörper im Rhythmus des Liedes. Dann wieder gemischte Strandzonen mit plärrenden Kindern, Paaren, Freundinnen, die ihre Köpfe zusammensteckten und jungen Männern, die miteinander Karten spielten.
Mehr als einmal kam es Frank so vor, als hätte er Janina gesehen. Einmal war es eine junge Frau, die in die Brandung lief, die ihr bis auf Haar zu gleichen schien. Als sie herauskam, und ihn ansah, blickte er in ein bestürzend fremdes Gesicht. Ein anderes Mal lag eine Pseudojanina eng umschlungen mit einem Strandadonis auf einer Liege, aber gottlob, sie war es nicht. Aber was würde er tun, wenn er sie wirklich treffen würde? Erinnern würde sie sich an ihn, doch nur als den merkwürdigen Kauz, der in ihr Apartment kam und statt dem Sex dem Kaffee frönte.
Inzwischen hatte er fast das Ende der Copacabana erreicht. Der Morro do Cantagaio, der flache Hügel vor der Arpador Halbinsel, der den Copacabana Strand von Ipanema trennte, war schon deutlich zu sehen. Als er sich kurz vor der Arpador Halbinsel in den Sand setzte, um sich auszuruhen, bemerkte er, dass sich ihm einige Männer näherten. Ihr Näherkommen war ungewöhnlich und unverkennbar. Sie kamen ihm nicht in einer Gruppe entgegen, sondern wie ein Netz, einer vorne, einer hinten, einer von der Seite, so dass er bald umzingelt wäre, wenn er sich nicht davon machen würde.
Frank stand auf und ging mit strammen Schritten zur Strandstraße. Die drei zogen weiter, ohne ihn zu beachten.
Auf den ersten Blick kam ihm der Ipanema-Strand schmaler vor als die Praia do Copacabana. Das Publikum war gehobener und die Polizeipräsenz war ausgeprägter, als bedürfe die Oberschicht, die hier zugegen war, besonderer Behütung. Aber das Strandleben war das gleiche: Sehen und gesehen werden, Spielen, Sonnenbaden, Schlafen, sich im Meer erfrischen, Flirten – Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, Männer mit Männern, alte Männer mit Jugendlichen, alles vollzog sich im langsam kreisenden Tageslauf dieses Strandes, ohne dass einer vom anderen Notiz zu nehmen schien. Die Cariocas von Ipanema schienen die Fähigkeit zu besitzen, sich mit ihren Freunden allein zu fühlen, gerade so, als besäßen sie den gesamten Strand nur für sich und als wären die Tausende links und rechts von ihnen gar nicht da. Jeder eine Monade im ewig kreisenden Rad des Lebens.
Als Frank am südwestlichen Ende der Praia do Ipanema den Morro Vidigal und die Häuser an seinen Abhängen erkennen konnte, setzte er sich an den Strand und dachte an Meike. Merkwürdig, dass sie ihm seit Jahren schon keine Karte mehr zu seinem Geburtstag geschrieben hatte, und als sie das letzte Mal zu Besuch in Köln gewesen war, hatte sie ihn noch nicht einmal angerufen. Aber war das überhaupt wichtig? Er hütete ein Bild von ihr, von dem er wusste, dass es der realen Meike nicht entsprach – es war eine Projektion, ein Ideal, doch Ideale waren für ihn keine Hirngespinste. Ideale waren für Frank wie Gartenzäune, um das eigene Leben einzuhegen, um der zu bleiben, der er war. Umso merkwürdiger, dass ihm das Bild Janinas nicht aus dem Kopf ging. Er sah sie genau vor sich, in der Sekunde, in der sie sich vorbeugte, um ihm die Milch einzuschenken - und in dem Augenblick, als sie ihn fragte, ob sie sich lieben sollten. Dass er diese Möglichkeit ausgeschlagen hatte, war richtig gewesen, machte ihm aber unzweifelhaft zu schaffen.
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