Als mir dann die Türe zum Aussteigen geöffnet wurde, waren meine Hände nicht mehr hinter dem Rücken gefesselt, sondern vorne am Bauch.
Ich stand im Innenhof des Polizeigefängnisses Ettstraße. Der Bau sah nicht gerade sehr einladend aus.
Drinnen folgte die Erkennungsdienstliche Behandlung: Als erstes musste ich meine Finger in ein Stempelkissen drücken und dann sauber auf einem vorgedruckten Blatt Papier abrollen »Klavierspielen«. Danach kam ich zum Fotografieren und zuletzt wurde ich noch gewogen und vermessen, wobei sie mir die Schnürsenkel und den Gürtel abnahmen. Jetzt führten sie mich über lange Gänge in eine Zelle.
Die schwere Zellentüre flog hinter mir ins Schloss. Und dann stand ich in einem riesigen Raum mit mindestens noch zwanzig anderen Männern. Die Zelle hinterließ einen üblen Eindruck. Die Wände waren gewiss schon Jahre nicht mehr gestrichen worden. Überall hatten sich die Gefangenen auf dem vergilbten Weiß mit ihrem Namen verewigt.
Die Spießbürgerwelt hatte für alles Farbe, aber nicht für ihre Gefängnisse. Man brauchte nur einen Blick hinter die saubere Fassade zu werfen, um zu begreifen, was wirklich war.
Und hier war es wirklich, verdammt wirklich. Es stank nach Schweiß und Urin. Kein Wunder, denn sie hatten vergessen, um die Toilettenschüssel eine Mauer zu bauen. Die Toilettenschüssel stand, nur mit einer dürftigen Abdeckung versehen, welche oben und unten zu kurz ausgefallen war, offen im Raum an der mir gegenüberliegenden Wand.
Es gab so viele Gesetze, warum keines gegen solche Toiletten? Diese hier stellte an sich schon eine Körperverletzung dar.
Zum Sitzen waren zwar Bänke an den Wänden angebracht, aber fast alle Insassen liefen wie von unsichtbaren Fäden gezogen durch die Zelle. Manche murmelten Beschwörungsformeln vor sich hin, andere waren still in sich gekehrt. Unrasierte, gebeugte Gestalten, die sich den Kopf darüber zermarterten, wie sie hier wieder herauskommen sollten. Mir wurde schon Gaga nur durchs Zusehen. Die Meisten sahen eher bemitleidenswert aus, sie waren die Verlierer der Spießbürgerwelt. Hier saßen unter anderem Leute wegen Schwarzfahren und Kaufhausdiebstahl. Ohne festen Wohnsitz landete man ganz schnell hinter Gittern.
Ich schnorrte mir eine Zigarette, setzte mich seitlich an die Wand anlehnend, auf die Bank und sog den Rauch ein. Heute war mein fünfzehnter Geburtstag. Meine Geburtstage waren nie recht toll gewesen, aber dass ich an meinem Geburtstag im Knast sitzen musste, stimmte mich etwas melancholisch. Gut, ich war Neuaubinger, ein kleiner Gangster und Revoluzzer und die oberste Regel besagte einfach: Nie erwischen lassen! Und genau das war passiert, und jetzt hatten sie mich wegen dieser Scheiß-Hausmeistergeschichte, die ich eh nicht wollte, am Arsch. Was für eine Scheiße!
Ich vertrieb mir die Zeit und suchte an den Wänden nach bekannten Größen aus der Rockerszene. Hier mussten sie auch schon alle gesessen haben, meine Vorbilder aus Neuaubing Ronaldo, Timmi, Eric – und all die anderen. Da standen einige mit ihrem Namen und ihrer Gang: Black Spider, Hells Angels, Valley und Warriors Neuaubing. Insgeheim hätte ich schon gerne zur anderen Clique in Neuaubing gehört.
Mir kam es so vor, als wäre die Zeit an einem Gummiband aufgespannt und wollte sich nun endlos in die Länge ziehen. Sie stand fast still. Einzig der Wachtel (ein Beamter) schien sie nach vorne zu treiben. Jedes Mal, wenn er in der Türe auftauchte, holte er jemanden ab und brachte ihn vor den Haftrichter. Einige davon kamen wieder zurück und hatten dann entweder einen rosa oder einen gelben Zettel in der Hand. Mit dem rosa Schein ging es in die Freiheit und mit dem gelben in den Knast.
Meine Freunde mussten irgendwo anders gelandet sein. Ich hängte mich ans Fenster, das in zwei Meter Höhe angebracht war, und rief leise: »Hey Marcel! … Hey Marceeeel!« Nach einer Zeit kam endlich von unten: »Alex?«
Marcel musste ein Stockwerk schräg unter mir gelandet sein und ich war heilfroh, als ich seine Stimme vernahm. »Wo sind denn die anderen?« fragte ich. »Keine Ahnung«, kam es zurück. »Vielleicht sitzen die schon in Stadelheim!« Dann erzählte ich ihm von dem Zettelsystem. Wir konnten nur hoffen, dass wir auch einen rosa Zettel bekamen. Die Zellentüre schwang wieder auf und ich musste weg vom Fenster.
An diesem Tag tat sich gar nichts mehr. Ich hängte mich noch ein paar Mal ans Fenster und unterhielt mich mit Marcel, was aber sehr anstrengend war, da man sich beim Abstützen die Ellenbogen aufrieb.
Hier war eben das Gefängnis, da waren Unterhaltungen zwischen den Stockwerken nicht nur unerwünscht sondern verboten.
Irgendwann ging die Türe wieder auf und wir wurden zum Schlafen in eine andere Zelle geführt. Vorher hatten sie noch Matratzen verteilt (die wurden nämlich am Tag verräumt.) Was sollte das wieder? Warum durfte man es sich nicht auch untertags bequem machen? Ich trug die Matratze zu einer Holzpritsche, warf sie darauf und legte mich hin. Dann starrte ich Kreise an die Decke. Bisher war ich nicht einmal auf der Toilette gewesen. Ich musste zwar bloß Wasser lassen, aber wie sah denn das aus? Man pisste doch auch nicht bei anderen Leuten ins Wohnzimmer! Die Toilette der Schlafzelle stand zwar wenigstens in einer Ecke, jedoch genauso ohne Mauer. Ich wartete bis drei Uhr nachts, dann schlich ich mich meine Blase entleeren.
Am nächsten Morgen zog der ganze Tross mit den Pennern, Kleinkriminellen und mir zurück in die große Toiletten-Zelle. Zuvor hatten wir noch unsere Matratzen abgeben müssen. Dann kamen zwei Beamte und verteilten Kaffee und Semmeln. Zwei Gummisemmeln und ein etwas süßlich schmeckendes braunes Spülwasser. Mit dabei stand wieder derselbe Gefängnisbeamte wie gestern, welcher mich hierher gebracht hatte und weswegen ich jetzt ohne Schnürsenkel und Gürtel dastand. Wie konnte der reinen Gewissens dieses Gesöff verteilen?
Da steckte doch System dahinter! Toilette, Matratzen und Semmeln konnte ich noch verkraften, aber das mit dem Kaffee nicht. Dabei kamen mir Rachegelüste. In Gedanken malte ich mir aus, wie ich den Gefängnisbeamten zu mir nach Neuaubing einlud, am besten noch in seiner Uniform, zur anderen Gang. Die hätten ihn vielleicht an einen Zahnarztstuhl geschnallt, und solange mit Kaffee und Semmeln traktiert, bis er Besserung schwor.
Dann setzte ich mich, biss gedankenabwesend in die Kaugummi-Semmel und legte mir meine Strategie zurecht – ich wollte mich still verhalten und auf unschuldig machen, das war die richtige Taktik. Ich hatte mit der ganzen Geschichte nichts zu tun und war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.
Danach wieder endloses Warten. Zwischendrin ein paar Lebensgeschichten von den straffällig gewordenen Pennern, welche mit mir die Zelle teilten. Von der Frau verlassen, den Job gekündigt und von der Spießbürgerwelt ausgekotzt. Im Nu war man Penner und landete noch zu allem Überfluss im Knast. Immerhin hatten die Penner aber ihre Geschichten, während so ein grausiges Spießbürgerleben kaum für Gesprächsstoff sorgte.
Gegen Mittag wurde dann mein Name aufgerufen. An der Zellentür nahm mich ein Beamter in Empfang und ich folgte ihm in sein Büro. Er stellte sich vor, ließ mich Platz nehmen und erzählte, er sei ein guter Freund von meinem Vater. Als ich noch klein war, hätte er uns oft besucht, und nun zeigte er sich traurig darüber, dass der Kontakt zu meinem Vater abgerissen war. Dann meinte er: »Ich habe bereits mit dem Richter gesprochen, du darfst nach Hause.« Er brachte mich noch bis zur Türe und ich ging in die Freiheit.
Draußen holte ich erst einmal tief Luft.
Über die wiedergewonnene Freiheit war ich froh, trotzdem schämte ich mich dem Beamten gegenüber. In diesem Moment hätte ich gern ein besseres Bild abgegeben. Ich wollte, dass mein Vater stolz auf mich sein konnte, aber stattdessen musste ich seinem Freund im Polizeigefängnis über den Weg laufen.
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