In den Zeiten des kalten Krieges sprach die IGFM insbesondere Menschenrechtsverletzungen in der DDR und den osteuropäischen Staaten an. Die Gesellschaft wurde 1972 in Frankfurt gegründet und war streng antikommunistisch ausgerichtet. Die Aktivitäten der Gesellschaft waren dem DDR-Geheimdienst ein Dorn im Auge. Wie man heute weiß, wurden einige Mitglieder der Gesellschaft von der Stasi umgebracht. Diese Mordaufträge konnten dem Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi zweifelsfrei angelastet werden. Anhand von eigenen Stasi-Dokumenten konnten die Verbrechen erst rekonstruiert und die Täter einwandfrei identifiziert werden. Auch diese beiden Männer, deren Bilder Hell nun in Händen hielt, hatten sich Anfang der Neunziger vor Gericht verantworten müssen, wurden aber freigesprochen. Aus Mangel an Beweisen. Einer der Männer hieß Harald Jochheim. Er wohnte in der Nähe von Asbach, einem kleinen Ort an den Füßen des Westerwaldes.
Julian Kirsch sah sich weiter in der Wohnung des ehemaligen Staatsanwaltes um. War es doch gewöhnt, sich in den Wohnungen von Toten oder Verdächtigen umzuschauen, so fühlte er sich jetzt gerade extrem unwohl. Sonst waren es Unbekannte, mit denen die Ermittler nichts verband, jetzt spielte auch die Trauer mit, da es ein Mensch war, den man kannte.
Kirsch stand in der Türe zum Schlafzimmer. Etwas hielt ihn zurück. Wie eine unsichtbare Barriere. Das Schlafzimmer markierte den intimsten Bereich der Wohnung. Doch er gab sich einen Ruck. Er musste hier ohne Emotionen ermitteln, auch wenn es ihm sehr schwer fiel.
Vielfach fand man im Schlafzimmer Dinge, mit denen sich die Vermissten oder Opfer kurz vor ihrem Tod am intensivsten beschäftigt hatten. Bücher, Musik, Akten. Alles wirklich Private fand sich dort. Auf dem Tisch neben dem Bett lag ein weiterer roter Ordner, einer wie sie eben bereits gesehen hatten. Er nahm ihn in die Hand und blätterte darin.
Nichts Neues.
Er legte den Ordner in eine Asservatenkiste, die er vor sich abgestellt hatte. Dabei fiel ein Blatt aus dem Ordner heraus und segelte unter das Bett. Julian Kirsch kniete sich hin und schaute unter das Bett. Das Blatt lag beinahe unter der Mitte des Bettes. Er legte sich auf den Rücken und angelte danach. Seine Nase berührte den Rand des Bettgestells. Er rückte noch ein wenig weiter, denn seine Finger konnten das Blatt zwar ertasten, aber nicht zu sich hinbewegen. Jetzt schob er auch seine Stirn unter das Bett. Da fiel sein Blick auf etwas, was nicht dorthin gehörte, wo es sich befand. Er konnte es nicht identifizieren.
Jetzt erreichte er das Blatt Papier und schob es mit den Fingern über den Teppichboden. Er holte es hervor und legte es achtlos hinter sich. Das fremde Etwas erregte seine volle Aufmerksamkeit. Er angelte mit der Hand danach. Es war am oberen Bettrand festgeklebt. Hatte Gauernack hier etwas versteckt? Er drehte das schwarze Kästchen, um den Kleber zu lösen. Es ließ sich schließlich vom Bettgestell lösen und er holte es hervor.
Er hielt es in den mit den grünen Handschuhen geschützten Händen.
Was war das? Es war kein Kästchen, in dem man etwas aufbewahren konnte. Nein, das hier schien ein elektronisches Gerät zu sein. Es hatte die Größe einer Männerhand. Flach, schwarz. Er legte es in einen Asservatenbeutel und beschriftete ihn sorgfältig. Neugierig trug er den Beutel zu seiner Kollegin herüber.
„Schau mal Heike. Hast Du so etwas schon einmal gesehen?“, fragte er und hielt sein Fundstück in der Hand. Er drehte es hin und her.
Heike Böhm erschrak, als sie sah, was ihr Kollege dort in dem Asservatenbeutel bei sich trug.
*
Hell beauftragte Wendt damit, sich einmal diesen Harald Jochheim anzuschauen. Ohne deutlich zu werden. Sollte die Stasi wirklich hinter dem Unfall stecken, dann würden er und seine Hintermänner möglichenfalls aufgescheucht. Das durfte auf keinen Fall passieren. Er verließ im selben Moment das Büro, als auch Hell sich auf den Weg in die KTU machte. Sie warfen einander noch einen flüchtigen Gruß zu.
Auf dem Weg in die KTU nutzte Hell die Zeit, um eine SMS an Franziska Leck zu schicken. Nur ein kleines ‚Ich denke an dich‘. Es kam keine Antwort, was Hell auch nicht erwartet hatte, denn sie war ja noch immer auf dem Seminar. Er steckte das Handy weg und öffnete die Türe zur Abteilung der Tatortermittler.
„Was habt ihr denn für ein Teufelsding gefunden?“, fragte er, als Tim Wrobel seinen Kopf hinter einem der neuen Bildschirme hob. Seine Hornbrille saß auf seinem Kopf, nicht auf der Nase.
Hallo Oliver“, brummelte Wrobel, „Definitiv etwas, was Du nicht gerne unter deinem Bett hättest.“ Er schob sich die Brille wieder vor die Augen.
„Will sagen?“
„Wir sind uns sicher, es ist ein elektromagnetischer Feldemitter.“
„Was tut das? Was kann das?“
Wrobel trat hinter der Reihe von Bildschirmen hervor. „Kleiner Exkurs in Technonologiegeschichte gefällig? So etwas ist in jedem alten Monitor verbaut gewesen. Du erinnerst dich? Diese klobigen Kästen, die noch bis vor kurzem auf unseren Schreibtischen standen. So etwas nannte man Monitor. Es hat die Zeilen geschrieben, könnte man sagen. Doch dieser hier ist etwas Besonderes.“
Hell mochte den Zynismus seines wissenschaftlichen Kollegen. „In wie fern?“
„Vor allem bei Röhrenmonitoren, bzw. Bildschirmen, die auf dem Prinzip der Bildröhre basieren, entstehen elektromagnetische Strahlen. Durch eine Lochmaske wurden sie daran gehindert, nach außen aus dem Gehäuse herauszutreten. Du erinnerst dich an den TCO-Aufkleber, den jeder Bildschirm hatte? Den verdankten wir der schwedischen Normengesellschaft MPR und der schwedischen Berufsgenossenschaft TCO. Die haben Grenzwerte der Strahlenemission festgelegt, die dann als TCO-Norm bezeichnet wurde. Bildschirme, die der TCO-Norm entsprachen, bezeichnete man als strahlungsarme Bildschirme.“
„Ja, klar. Aber was hat das mit diesem schwarzen Ding zu tun?“ Hell zeigte auf das schwarze Kästchen, was Wrobel schon auseinandergeschraubt hatte.
„Hier fehlt die Lochmaske. Was bedeutet, der Emitter hat seine Strahlung ungebremst abgeschossen.“
„Nicht gut.“
„Nein, gar nicht gut. Sehr schädlich. Es kann Kopfschmerzen auslösen, wenn man den Strahlen zu lange ausgesetzt wird.“
„Und jede Nacht über einen längeren Zeitraum? Wir müssen davon ausgehen, dass das Gerät schon länger dort montiert war.“
Wrobel schaute zerknirscht. „Es gibt Berichte darüber, dass die Amerikaner und auch die Russen während des kalten Krieges unliebsame Zeitgenossen damit traktiert haben. Über Kopfschmerzen und Übelkeit sind die Menschen bis hin zu Depressionen manipuliert worden.“
„Manipuliert klingt harmlos“, sagte Hell düster.
„Der Mensch ist des Menschen Wolf.“
„Kann man bei der Obduktion feststellen, ob jemand über einen längeren Zeitraum“, versuchte er, eine Frage zu formulieren, „…ich meine, geht das?“ Hell kratzte sich nervös hinter dem Ohr. Er spürte, wie sein Herz heftiger zu schlagen begann.
„Nein, das kann ich dir nicht beantworten. Das musst du die Kollegen von der Abteilung ‚Totenstarre‘ fragen“, versuchte Wrobel zu scherzen.
Eine Weile blieb es still.
„Ist denn bekannt, dass auch die Stasi solche Methoden angewandt hat?“ Hell war bei der Frage unwohl, aber sie stand im Raum.
„Wenn es die Russen getan haben, haben es die Freunde vom Ministerium für Staatssicherheit sicher auch im Angebot gehabt“, antwortete er bitter.
„Danke Tim, das müssen wir definitiv wissen. Und wir müssen auch wissen, was für einen Schaden dieses kleine Mistding dort anrichten konnte.“
„Ich werde Heike Böhm damit beschäftigen, das herauszufinden. Sie hat übrigens sofort erkannt, um was es sich handelte.“
Tim Wrobel hob eine fragende Augenbraue.
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