„Lasst sie mal machen. Fragen können wir dann immer noch stellen“, sagte Hell. Er faltete seine Hände vor dem rechten Knie und gab Meinhold ein Zeichen fortzufahren.
„Ich gehe davon aus, der Täter ist gebildet, sehr wahrscheinlich hat er eine Ausbildung. Eine feste Beschäftigung ist sehr wahrscheinlich. Ebenso kann er verheiratet sein, oder in einer festen Beziehung leben. Er agiert geradlinig und kontrolliert, was darauf schließen lässt, dass er das aus seinem Beruf her kennt. Der Täter ist sicher sozial angepasst. Er wird eine normale Kindheit erlebt haben, hatte eine mittlere bis gute Beziehung zu den Eltern.
Er ist mobil. Gilt als freundlich, extrovertiert und liebenswürdig. Keiner vermutet einen Mörder in ihm. Er ist aber trotzdem kein Partygänger. Lebt eher zurückgezogen. Ein wichtiges Merkmal ist: er geht wahrscheinlich gerne nachts vor.“
Wendt runzelte die Stirn. „Und das alles liest Du aus dem, was wir am Tatort gefunden haben?“
„Ja“, antwortete sie knapp.
„Lebt er hier in Bonn?“, fragte Rosin.
„Sehr wahrscheinlich. Sollte nicht noch ein weiterer derartiger Mord passieren, dann gehe ich davon aus. Ja.“
„Was macht aus so einem Menschen einen Mörder?“
„Das müssen wir herausfinden. Wer sich mit Profilen befasst, muss die Vorgehensmuster und die charakteristischen Eigenschaften des wahrscheinlichen Täters feststellen. Er geht von Fakten aus und setzt diese in seiner Analyse durch logische Überlegungen zueinander in Beziehung.“
„Aber mehr als das hier haben wir doch nicht“, sagte Klauk zögerlich. Er hatte sich, wie geplant, Notizen gemacht. Er klopfte mit dem Stift auf den Block.
„Eben, daher müssen wir noch im Leben des Opfers graben, um ein Motiv zu finden. Für mich ist es eine sehr persönliche Tat. Das denke ich nicht nur. Der aufgesetzte Schuss ist der Beweis dafür“, antwortete Meinhold. Während ihrer Ausführung hatte sie Stichworte auf die Glastafel geschrieben.
Jetzt schrieb sie das Wort ‚Motiv‘ auf die Tafel und machte zwei Fragezeichen dahinter. Sie schob die Kappe auf den Marker. „Das war’s.“
„Die Frage, wieso er keine Gewalt angewendet hat, bleibt aber im Raum.“
„Stimmt, das ist auch untypisch für einen so kontrolliert vorgehenden Mörder. Er fixiert normal sein Opfer und ist bei der Tatausführung brutaler. Aber ich erwähnte ja bereits, es gibt Ungereimtheiten.“
„Sei mir jetzt nicht böse, Chris. Kann es sein, dass dein ganzes Profil nicht stimmt?“, fragte Rosin. Sie hoffte, dass Christina Meinhold ihr die Frage nicht übelnehmen würde.
„Nein, da kann ich dich beruhigen. Das Profil stimmt zu neunzig Prozent. Bis auf diese Sachen.“
Hell richtete sich in seinem Sessel auf. „Ich danke dir Christina. Das wird uns weiterhelfen, da bin ich mir sicher.“
„Ich hoffe es. Profiling ersetzt keine normale Polizeiarbeit, es gibt ihm eine Richtung.“
Hell zuckte mit den Schultern. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es klappt.“ Christina Meinhold schaute ihn an und beide fingen an zu grinsen.
„Sehen Sie, Chef. Gefühle sind manchmal alles, was einem bleibt.“ Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es zwischen den beiden Ermittlern einen Streit um solche Gefühle gegeben. Hell hatte dazu gelernt. Meinhold war weniger angriffslustig.
„Es kommt viel Arbeit auf uns zu“, sagte Klauk.
Oliver Hell seufzte und breitete die Arme aus. „Hat uns das je gestört? Nein oder?“
„Wir brauchen einen neuen Schlachtplan. Wenn Christina jetzt bei uns ist, dann können wir uns anders aufstellen. Ich meine, ich könnte jemanden gebrauchen, der mir bei der Fahndung nach Gericke und den weiteren Ermittlungen hilft.“ Er richtete seinen Blick auf Hell.
Der schüttelte bloß den Kopf. „Nein, wir brauchen alle. Du bleibst vorerst alleine an dem Fall Gauernack dran. Alle anderen kümmern sich um ‚Oskar‘. Sollte sich bei Gauernack etwas Neues ergeben, überlegen wir neu.“
Wendt verzog den Mund, doch wusste er, dass Protest keinen Erfolg bringen würde.
*
Lydia Laws war schuld daran, dass Jan Schnackenberg an seinem letzten Abend Kaviar gegessen und dazu sündhaft teuren Rotwein getrunken hatte. Lydia war überhaupt schuld daran, dass er sich dazu entschlossen hatte, an diesem Abend mit ihr auszugehen. Lydia Laws war verheiratet. Das war für den sonst zurückhaltenden Schnackenberg ein Tabu. Er hatte auch nur zugesagt, weil es kein Rendezvous für zwei war, sondern ein Besuch bei einem noblen Event in der Piano-Bar des Maritim-Hotels in Bonn.
Lydia hatte seit einiger Zeit ein Auge auf den erfolgreichen Banker geworfen. Daraus machte sie keinen Hehl. Ihre Ehe stand für sie kurz vor dem Aus und sie orientierte sich bereits neu. Sie war Luxus gewöhnt und bei Jan Schnackenberg erhoffte sie sich, diesen Luxus weiter erleben zu können.
Es war ein erlesener und gut betuchter Kreis, der an dem Abend in der Piano-Bar Kaviar aß und Wein trank. Dort fühlte sich Lydia Laws wohl. Hier gehörte sie hin. So empfand sie.
Jetzt war Jan Schnackenberg tot. Lydia Laws hatte natürlich von seinem spektakulären Tod gehört. Doch fühlte sie keine Trauer, nein eigentlich fühlte sie nur Enttäuschung. Umsonst investierte Zeit. Jetzt musste sie sich ein neues Opfer suchen, was sie umgarnen konnte.
Sie hätte sich auch nicht bei der Polizei gemeldet, wäre da nicht die Furcht gewesen, dass die Ermittler ihr sowieso auf die Schliche gekommen wären. Es hätte unangenehme Fragen gegeben, womöglich einen Besuch zuhause. Das wiederum hätte ihren Mann aufgeschreckt. Was sie auf jeden Fall vermeiden wollte. Der arme Ehemann wusste nichts von den Plänen seiner Frau. Für ihn war ihre Ehe zwar in einer Krise, aber er ahnte nichts von den Aktivitäten seiner Frau.
Also nahm sie ihren Mut zusammen und fuhr zur nächsten Polizeidienststelle um dort eine Aussage zu machen.
Hell erhielt einen Anruf von der Dienststelle um halb zehn. Eine Stunde später saß Lydia Laws vor ihm im Verhörraum. Wenn man nur ihr Äußeres betrachtete, war sie eine angenehme Erscheinung. Braunes, kurz geschnittenes Haar, dunkle Augen, die etwas spöttisch dreinblickten. Ein feines, ebenmäßiges Gesicht. Doch bereits die ersten Worte, die die junge Frau von sich gab, zeigten Hell, dass er eine Frau vor sich hatte, deren innere Schönheit weit hinter ihrer Äußeren zurückblieb.
„Sollte mein Mann etwas von dem Abend im Maritim-Hotel erfahren, hetze ich Ihnen meinen Anwalt auf den Hals. Was soll ich hier? Ich habe den Polizisten doch schon gesagt, wo ich war und das Jan Schnackenberg mein Begleiter war. Was also soll ich jetzt auch noch bei Ihnen?“
Hell musste sich zurückhalten. Schon oft hatte er solche Frauen verhört. Er achtete darauf, dass seine Stimme klar und bestimmt klang. Innerlich war er aufgewühlt. Er ließ sich nicht gerne drohen.
„Frau Laws, eines lassen sie uns direkt feststellen: wir lassen uns nicht drohen. Wir ermitteln in einem Mordfall. Sie sind die Letzte, die Jan Schnackenberg lebend gesehen hat. Also können wir uns auf einer Ebene treffen, die dem Tod des Mannes angemessen ist?“
Ihre Lider flackerten. Die Lippen spannten sich. Hell vermutete, dass sie sich nun zurücknahm. Er hatte ihr klargemacht, dass sie keinen dummen Bullen vor sich hatte.
„Was wollen Sie von mir wissen?“, stieß sie hervor.
„Wann und wo haben Sie sich von ihrem Begleiter verabschiedet, Frau Laws?“
Sie schaute über Hells linke Schulter. „Ich denke so gegen halb zwölf haben wir die Bar verlassen. Jeder fuhr dann nach Hause.“
„Für sich?“
„Ja, alleine“, antwortete sie.
Hell stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab. „Das müssen sie mir jetzt erklären. Eine Bar mit sanfter Musik, Kaviarhäppchen und Rotwein. Ein Mann und eine Frau. Sie sind eingeladen worden. Das hatte doch einen romantischen Hintergrund. Und dann fährt jeder getrennt nach Hause? Was ist schief gegangen?“
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