Nun hoffte ich, dass Jakob sein Versprechen hielt und in die Klinik zu einer Entzugstherapie ging. Aber es klappte nicht. Gemeinsam mit meinen Eltern, seinen Cousins oder mit mir suchte er diverse Suchtkliniken auf, oftmals spezialisiert auf Cannabis. Aber alle wiesen ihn ab. Die Gründe: zu jung oder nicht wirklich süchtig. Was Jakob mache, fiele noch unter »normalen Konsum«. Nicht wirklich süchtig war sicherlich falsch. Vielleicht war er nicht körperlich abhängig, sicherlich aber psychisch.
Kurz nach dem Besuch der Großeltern hatte mich mein Neffe angerufen und berichtet, dass Jakob damit prahle, meist erst morgens gegen 5 Uhr nach Hause zu kommen. Er sei häufig nachts unterwegs, kaufe und verkaufe Cannabis. Jakob hätte es ihm stolz berichtet. Seit geraumer Zeit stellte ich mir deshalb den Wecker zweimal in der Nacht auf 2 und auf 4 Uhr morgens, denn irgendwann hatte ich festgestellt: Jakob sagte mir zwar immer brav hum halb elf „Gute Nacht “, aber danach verschwand er.
Mir war nun klar, warum er morgens nicht aufwachte. Jakob war am frühen Morgen tatsächlich todmüde. Er hatte sich in den letzten Monaten sein eigenes Leben aufgebaut, von dem ich keine Ahnung hatte. Und es fand nicht tagsüber statt. Er hatte sich gut verstellt, über lange Zeit fiel es niemandem auf. Wie viele Psychologen, Psychiater, Coaches, Lerntherapeuten, Sozialarbeiter, Heilpraktiker und Suchtberater hatte er in den letzten Jahren kennengelernt? Keiner war hinter sein Geheimnis gekommen. Keiner hatte eine Idee gehabt, was Jakob trieb und was in ihm vorging. Diese Therapeuten waren sicher viel mehr Menschen, als ihm gutgetan haben. Oft schildert er, dass er immer wieder zu Ärzten gemusst habe. Heute denke ich, wahrscheinlich war das falsch von mir. Er brauchte Hilfe, das ja. Die psychosomatischen Bauchschmerzen, die Drogen, das chronische Schulschwänzen. Ich rechtfertige es vor mir selbst, dass ich die richtige Person suchen wollte, die richtige für ihn. Das war wichtig, aber einige der Leute hätte ich nicht einschalten sollen. Die, bei denen von vornherein klar war, dass Jakob keinen Draht zu ihnen bekommen würde, die Älteren, die Spießigen, die Humorbefreiten …
Jetzt war es nicht mehr zu ändern, aber ich wollte vorsichtiger in Zukunft sein, und derweil ging Spurensuche weiter – bis tief in die Vergangenheit. Meine Freunde drängten mich, mir helfen zu lassen, und empfahlen mir immer wieder, mir einen Therapeuten, einen Coach zu suchen. »Mensch Fine, was dDu da an Last trägst, geht nicht allein, wenn dDein Ex nicht mit anpackt. S, such dDir andere Hilfe!«. Als Annette, Vivian und Evelyn mir das je ungefähr jeder sieben Mal gesagt hatten, suchte ich tatsächlich nach einemn Ccoach in meiner Nähe. Ich machte einen Termin bei Amely Wunschenstein in Zürich. Mein Ziel dabei war, die Ursachen für die Drogensucht für das Schulschwänzen zu finden. Mit ihr das herauszufinden, was all die anderen nie geschafft hatten. Denn für mich blieb die Frage: Was war schiefgelaufen, wo hatte ich als Mutter versagt?
Frau Wunschenstein erzählte ich Jakobs Geschichte, unsere Geschichte, und dabei fing ich ganz von vorne an. Mit seiner Geburt, dem eiskalten, regnerischen Tag im Dezember 2004, als der kleine »Knödel«, wie ich ihn damals nannte, zwei Wochen nach errechnetem Termin mit 4,5 kg sich mühsam in 30 Stunden auf die Welt kämpfte. »Als Jakob es endlich geschafft hatte«, erzählte ich ihr, »waren wir beide halb tot. Vielleicht habe ich deshalb eine ganz besondere Bindung zu ihm. Er war ein Kämpfer und er wurde unterschätzt.« Nach der Geburt hatte sich rausgestellt, alles war viel größer als im Bauch geschätzt und gemessen. Die Ärzte hielten ihn danach für sehr krank, seine Werte waren schlecht. Kurz nach den Weihnachtstagen war er geboren und schon am Tag danach verlegt worden von der wunderbaren idyllischen Geburtsklinik, die ich mir in der Schwangerschaft ausgesucht hatte, in ein riesiges Klinikum an einem Industriestandort. Ich sollte dort nicht aufgenommen werden. Für Jakob selbst gab es nur ein freies Bett, und das war auf der Säuglingsintensivstation, kein anderes Bett im ganzen großen Frankfurter Klinikum war frei. Ach, und Jakob kam nicht nur auf die Säuglingsintensivstation, sondern auf die Frühchenintensivstation. Nur winzige, viel zu leichte Babys waren dort. Seine Bettnachbarn wogen zwischen 500 und 700 Gramm, er dagegen 4500 Gramm plus und hatte mit 39,5 Zentimetern einen immensen Kopfumfang. Angepasst an diese Winzlinge waren auch die Windeln in Größe XXXXXS, die Kleidung in Größe 50 oder kleiner, halt Puppenkleidung. Nichts von alledem passte ihm, die Windeln reichten für eine halbe Pobacke, die Bodys passten gar nicht über seinen Kopf. Die Nahrung war auch ein Problem. Stillen war auf dieser Station verpönt, ernährt wurden die Frühchen durch Kanülen am Kopf. Das hing damit zusammen, weil die meisten zu schwach zum Saugen waren und zu wenig Personal zwischen den Jahren arbeitete, um eine individuelle Versorgung zu ermöglichen. Es war ein Albtraum! Nur für mich, oder auch für ihn?, frage ich mich oft.«
Frau Wunschenstein schluckte und notierte sich alles, und ich redete weiter, sprach mir alles von der Seele: »Aber wir kämpften, jeder auf seine Art. Mir gelang es nach viel Überzeugungsarbeit, dass das Klinikum mich doch aufnahm, wenn auch in einem Patientenbett drei Häuser weiter. Dank meines Smartphones, das alle zwei Stunden klingelte, marschierte ich mit vier Einlagen im Slip im Zwei-Stunden-Takt zu ihm rüber, um ihn zu halten und ihn zu stillen. Das halten Sie nie durch , so die Aussage der Ärzte und Pfleger. Aber ich hielt durch, und vor allem Jakob hielt durch. Fünf Tage, dann wurden seine Werte deutlich besser und er nahm zu. Ich stillte einfach fortlaufend, und die Schmerzen, die ich in Unterleib und Brüsten hatte, wurden täglich weniger. Heute erst weiß ich, wie stark ich damals war. Damals funktionierte ich, wie so oft dann auch später, als die Tragödien seiner Teeniezeit begannen. Der Vater des Kindes war bei der Geburt dabei, fing aber unmittelbar danach wieder an zu arbeiten. Die Verwandtschaft feierte Silvester, es gab nur uns zwei – Jakob und mich. Nein, nicht ganz. Juliane, eine uralte Freundin von mir, kam, sie rettete uns. Sie zog bei uns ein und organisierte von dort. Aus der Wohnung brachte sie normale M-Windeln und Kleidung in Größe 62/64 ins Krankenhaus. Sie brachte mir Snacks und Stillleinlagen, besorgte die Pumpe zum Milchabpumpen und war einfach für uns da. Vom Krankenhaus war keine Extrabehandlung zu erwarten. Bedingt durch die hohe Auslastung in der Weihnachtszeit, das wenige Personal und die Tatsache, dass Jakob auf einer Intensivstation lag, auf der alle anderen Babys viel zu schwach zum Stillen waren, wurden eben alle Säuglinge gleich behandelt.«
»Das ist schön, dass zumindest Ihre Freundin für Sie da war«, sagte Frau Wunschenstein.
»Ja, das war es«, erwiderte ich. »Juliane ist ein Mensch, der unser Leben ausmacht, es verändert. Sie feierte mit uns Silvester und brachte uns eine Wunderkerze in der Form des Buchstaben J mit, die ich bis heute noch habe. So feierten wir zu dritt. Mein ganzes Leben hatte ich den Jahresabschluss immer mit vielen Menschen verbracht, auf Partys, in Restaurants, auf Schiffen vor der Skyline in New York und auf Wolkenkratzern in Frankfurt, mit viel Delikatessen und Champagner, es war immer laut und lustig gewesen. Aber jetzt war es ganz anders, es war besinnlich. Ich feierte den Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Ich war Mutter geworden und hatte das wunderbarste Kind der Welt. 2005 konnte kommen.«
»Und wie ging Jakobs Kindheit weiter?«, fragte Frau Wunschenstein. »Wie waren Kindergarten- und Schulzeit?«.
»Die Kindergartenzeit war prima, er ging unglaublich gerne in die Kita, und obwohl er schon mit zehn Monaten dorthin kam, hatte er sofort viele Freunde jeden Alters, wie immer sein ganzes Leben bisher«, berichtete ich. »Eingeschult habe ich ihn 2009 – ein Jahr früher als normal, denn er war noch fünf Jahre alt. Wir waren umgezogen, es gab keine Kindergartenplätze am neuen Wohnort. Jakob war aufgeweckt und hatte sich in den letzten Monaten in der Kita nur gelangweilt. Deshalb war klar für uns, er geht nach dem Umzug in die Schule. Wir, Jakobs Vater und ich, waren jung und unbedarft, und so wussten wir alles besser als die anderen.
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