Der Termin mit dem Direktor stand vor der Tür. Ich hatte nicht viel Zeit für die Vorbereitung gehabt, nur einen Abend konnte ich recherchieren über Schweizer Schulgesetze und Verordnungen. Eine Mappe mit ein paar Ausdrucken rechtlicher Grundlagen trug ich am nächsten Tag bei mir und war im engen Kostüm mit Jakob im Schlepptau ins Büro des Direktors gestürmt. Eine Minute zu spät – wirklich unpünktlich für Schweizer Verhältnisse. Dort erwarteten uns schon ungeduldig fünf Personen: der Direktor, der Klassenlehrer, die Schulpsychologin, der Heilpädagoge und die Sozialarbeiterin. Ich stellte mich vor, Josephine Kardishi, 45 Jahre, 3 Kinder – das Wörtchen »alleinerziehend« schenkte ich mir, vermutlich wussten Sie es ohnehin.
Die Anwesenden waren freundlich, aber distanziert und schilderten mir nach meinen paar Eingangsworten die Vorgänge, von denen Jakob mir bereits berichtet hatte, und sagten, die Beweise seien erdrückend, sie sähen sich gezwungen, den Mädchen zu glauben. Mein Sohn hätte auf dem Schulhof mit Drogen gedealt, er hätte sie verkauft und sogar damit geprahlt.
Ich war mir sicher, es musste ein riesiges Missverständnis sein. Wie konnten sie den anderen glauben, den Streberinnen, die neidisch waren auf meinen Jungen, seine vielen Freunde und seine Leichtigkeit in allen Dingen, die Schule nicht betrafen? Er war ein Aufschneider, ein Angeber. Wahrscheinlich hatten sie ihn gefragt: »Oh, verkaufst du Drogen?«, und er hatte gesagt: »Klar doch«, und sich cool dabei gefühlt.
Und jetzt das! Dieser Vorfall könnte ihm das Genick brechen, dachte ich bei mir. Jakob hatte es doch ohnehin so schwer. Ein Vater, der ihn immer missachtet hatte, weil es in der Schule nicht lief. In welcher? In keiner. Nicht auf dem Gymnasium in Deutschland, nicht auf der Bezirksschule in der Schweiz und jetzt? Jetzt war er seit Sommer auf der Sekundarschule, gerade von einem Segeltörn (Klassenlager, wie die Schweizer sagen) zurückgekommen, ging täglich in die Schule, hatte neue Freunde und war glücklich.
Aber mein Bitten und Flehen in dem Gespräch half nichts. Zwei Mitschülerinnen hatten nun mal beim Klassenlehrer angegeben, sie hätten in der Pause beobachtet, Jakob habe irgendetwas in Alufolie eingewickeltes einem Klassenkameraden gegeben. Dass er tatsächlich gedealt habe, konnte ihm nicht nachgewiesen werden, sein Rucksack und seine Jacke waren untersucht worden. Dennoch wurde er »zur Sicherheit« suspendiert – und zwar für einige Wochen.
Als er wieder in die Schule zurückdürfte, blieb das Stigma des kriminellen Drogendealers an ihm kleben. Gefahren von Cannabismissbrauch war das Thema in Bio, in der Klassenstunde das Projekt Zivilcourage – warum ich illegales Verhalten melden muss , in Deutsch Aufsätze zum Thema Missbrauch von Substanzen . Es gab kein anderes Thema mehr. Die Klasse redete nur noch über Drogen und kurze Zeit später die halbe Schule. Bella, meine Tochter, wurde irgendwann angesprochen, ob ihr Bruder der Drogendealer sei.
Als Ende Oktober 2018 und während der Zeit, als mein Sohn noch vom Unterricht suspendiert war, beim Elternabend seiner Klasse 28 (also alle) Eltern forderten, mein Sohn müsse die Schule verlassen, er sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, brach ich abends auf den Stufen meines Hauses zusammen. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich verzweifelt gewesen war. Für mich war dieser Elternabend ein Albtraum gewesen, eine absolute Vorverteilung. Es wurde in meinem Beisein über mein Kind geredet, als wäre ich nicht dabei und als wäre er ein Verbrecher. Man sprach darüber, wie wichtig es sei, die Augen aufzuhalten, um kriminelles Verhalten aufzuspüren. Der Direktor wies darauf hin, dass man bei strafrechtlichem Verhalten doch bitte Strafanzeige bei der Jugendstaatsanwaltschaft einreichen soll. Den Eltern wurde versichert, mein Sohn müsse sich nach Suspension den jetzt von der Klasse in seiner Abwesenheit entwickelten neuen Klassenregeln unterwerfen und vor allen entschuldigen.
Es war ein Albtraum, aber ich wusste von Jakob, er wollte auf keinen Fall einen erneuten Schulwechsel, nachdem er vor eineinhalb Jahren erst von Deutschland in die Schweiz gezogen war. Deshalb musste ich für ihn kämpfen, damit er noch eine Chance bekam vom Direktor, vom Lehrerkollegium, von den Kollegen – seinen Mitschülern.
Also lud ich einen Tag nach dem Hexenprozess, wie ich den besagten Elternabend fortan nannte, alle Eltern, deren Kinder »betroffen« waren, die ihn mit vermeintlichen Drogen gesehen hatten, in die Dorfkneipe ein – gemeinsam mit ihren Kindern. Wir redeten, sprachen uns aus, ließen die Kinder zu Wort kommen. Mein Plädoyer bestand immer wieder darin zu erklären: »Das Leben ist bunt« – »Wir sind alle verschieden, und das ist doch auch gut so.« Aber das Treffen brachte nicht den gewünschten Erfolg.
Nach der Rückkehr von der Suspension war Schule für Jakob gelaufen. Die Lehrer hatten ihn vorverurteilt, und er fühlte sich beobachtet, ausgeschlossen. Immer wieder hatte er Bauchschmerzen oder Kopfweh und fehlte im Unterricht. Ich ging mindestens zweimal wöchentlich in die Schule zu Terminen mit Heilpraktikern, Lehrern, Direktor, Schulpsychologen und Sozialpädagogen. Immer stand ich hinter meinem Sohn, ich kämpfte wie eine Löwin.
Täglich versicherte er mir, es sei eine Kampagne gegen ihn. Es sei alles eine riesige Intrige. Er habe erst zwei Mal Cannabis ausprobiert, aber es sei nichts für ihn. »Mama, ich habe noch nie etwas besessen, geschweige denn verkauft. Ich bin doch nicht blöd. Die Kollegen haben nur Alufolie bei mir gesehen und das für ein Graspaket gehalten, wie albern.« Und das war es doch, dachte ich auch. Mein Sohn war 14 zu dem Zeitpunkt, 14 Jahre. Er schrieb mir regelmäßig WhatsApp-Nachrichten mit Herzchen und bot seine Hilfe in der Küche an. Er war faul und ein Minimalist in der Schule, aber NIEMALS ein Drogendealer.
Als die Sozialtherapeutin mir in einer dieser unendlichen wöchentlichen Sitzungen mitteilte, mein Sohn lüge, kippte ich den Becher mit heißem Kaffee über den Tisch und ging nicht mehr zu ihr hin.
Acht Monate lief das so weiter, mein Sohn ging kaum in die Schule und ich umso mehr. Er traf stattdessen Freunde zum Basketballspielen, Fußballspielen und Rauchen. Ich hoffte auf Tabak, aber ganz sicher war ich mir nicht, vermutlich kiffte er tatsächlich. Jedenfalls roch sein Zimmer oft ziemlich komisch, so süßlich.
Dennoch waren die Vorwürfe der Schule für mich haltlos. Mit 14 Jahren verkaufte niemand Drogen, schon gar nicht mein Sohn, selbst wenn er ab und zu konsumierte, was schlimm genug war. Ich verteidigte ihn bis aufs Blut. Das konnte ich schon immer gut, argumentieren, überzeugen. Nicht umsonst hatte ich Jura studiert. Ich hatte kein kriminelles Kind. Mein Sohn würde niemals ein Gefängnis von innen sehen, das schwor ich mir zu der Zeit. Denn meine Promotion hatte ich über Strafvollzug geschrieben, und nachdem ich dafür in zahlreichen Gefängnissen gewesen war, war Strafvollzug für mich ein absoluter Albtraum.
Während dieser »Rettet-Jakob-Phase« ruhte meine Arbeit faktisch, und seine Geschwister, acht und elf Jahre, mussten sich hintenanstellen. Wer war dieser 1,80 Meter große, 14 Jahre alte Mensch, den ich bei einer 30-stündigen Geburt mit 4,5 Kilo geboren hatte?, fragte ich mich immer wieder in dieser Zeit. Jakob war undurchsichtig, schon immer gewesen, und vor allem in den letzten Jahren. Viele seiner Motive für seine Handlungsweisen hatte ich nie begriffen. Eine der einschneidendsten Fragen war lange Zeit: Warum wollte er 2017 zum Islam konvertieren? Es war im Oktober 2017, als er mir eine SMS schrieb, er wolle aus der Kirche austreten und hätte seine Gründe. Später erläuterte er mir dann, dass er zum Islam wolle, ihm gefielen die Strukturen und strengen Regeln und die »Anführer«.
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