1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 Ich öffnete den Reißverschluss und fragte mich laut: „Der Kerl ist doch nicht extra nach Edinburgh gefahren – wegen mir und einem Kleid?“
Nein, überlegte ich. Schotten waren eigenartig. Ja, teils auch etwas verrückt in ihren Ansichten und Bräuchen, aber das? Nein. Mir blieb fast die Luft weg, als ich die Hülle hinab zog. Das Kleid war wundervoll. Tannengrün mit geschnürtem Mieder, eigentlich ganz nach meinem Geschmack. Mal abgesehen von einem seltsam anmutenden Horn, welches an einem zum Kleid passenden Gürtel aus wunderbar weichem Leder, hing.
Dumme Pute!, schalt ich mich. Das heißt gar nichts, und nein, ich mag Sie kein bisschen, Mr. MacLeod. Nichts da, Ian Tormod Robert MacLeod. Ich falle nicht auf Sie rein! Am Bügel hing ein kleiner Brief. Ich sah ihn voller Abscheu an, doch er wich nicht. Na ja, ich konnte ihn ja zumindest lesen!
Vor Nervosität merkte ich erst, als ich Luft holte, dass ich den Atem angehalten hatte. Als ich den Brief öffnete, stand da: „Sehr geehrte Mrs. Georgy. Ich erwarte Sie am kommenden Samstag, gegen 18.30 Uhr zur Sonnwendfeier auf Dunvegan Castle“, in einer für einen Mann schönen Handschrift und weiter: „Dort hoffe ich, Sie einmal lachen zu sehen, wobei ich mich gerne zur Belustigung zur Verfügung stelle. Es besteht Kostümzwang! Ihr ergebener Diener, Ian Tormod Robert MacLeod. PS: Das Grün hat die Farbe Ihrer Augen.“
Was bildete sich dieser eingebildete Schotte eigentlich ein? Glaubte denn jeder hier auf Skye, er könnte über mich bestimmen? Wutentbrannt zerknüllte ich den Brief und warf ihn in den Mülleimer neben dem Schreibtisch. Natürlich traf ich daneben!
„Verflixt! Klappt heute denn gar nichts?“, schimpfte ich und ließ das Corpus Delicti liegen, wo es war. Mein Blick fiel wieder auf das durch die Sonnenstrahlen vom Fenster angeleuchtete Päckchen von Agnes.
Was soll’s? Ich ließ mich neben ihm nieder, klemmte den Kopf zwischen die Beine und seufzte laut. Ich bräuchte nur die Hand auszustrecken und es zu öffnen. Ganz leicht, einfach öffnen. Stell dich nicht so an.
‚Du bist kein kleines Pflänzchen, nee, du bist ‘ne stachelige Rose!’, pflegte Oliver Buchanan zu sagen. Es sollte ein Kompliment sein, ich bekam es mit vierzehn samt meinem ersten Kuss von ihm.
Vorsichtig machte ich mein Erbe auf. Es verströmte den Duft der Rosen des Klosters, roch aber auch nach Agnes und ihren Kräutern. Das Packpapier entblößte einen liebevoll mit Rosenpapier- oh, Agnes was sonst! - beklebten Schuhkarton. Mit spitzen Fingern, als könne er zerbrechen, hob ich den Deckel an und schaute in das neugierige Gesicht eines dreijährigen Kindes mit grünen Augen und flammend roten Haaren. Das war ich mit meinem Hasen Eddie im Arm, schüchtern an den Rock einer strahlend schönen Schwester Agnes geklammert.
Es folgten einige Schnappschüsse. Oli und ich auf unserem Baum, vermutlich still und heimlich aufgenommen. Eine energisch dreinschauende 14-Jährige, gefolgt von einer 16-Jährigen in Jeans und Wanderstiefeln, Arm in Arm mit einer lächelnden Agnes. Jetzt erst wurde mir bewusst, wie sehr sie mich geliebt haben musste.
Das letzte Foto zeigte eine 20-Jährige mit Koffern. Sie hatte es gemacht, als ich ging, es war etwas fleckig und an den Ecken abgegriffen. Eine Woge der Trauer erfüllte mich. Ich nahm das Foto mit mir und Agnes und drückte es fest an meine Brust. Verflixt, nicht schon wieder heulen. Schniefend zog ich die Nase hoch. Nein gar nicht ladylike. Unter den Fotos kam eine Babydecke zum Vorschein, sie war kunstvoll bestickt. Beim näheren Betrachten stellte ich fest, dass es sich um Fabelwesen handelte. Da waren Einhörner, Drachen, Elfen und Zwerge. Die Decke war zauberhaft. In ihrer Mitte prangte ein großes Emblem oder Wappen. Ein ineinander verschlungenes I, ein kleines U und ein D, verbunden mit einem bunten Drachenreigen. Das gleiche Wappen fand ich kunstvoll gestaltet als Amulett mit einer alten ... War das tatsächlich Pergament? Es war eine Art Rolle, an den Rändern stark ausgefranst, vergilbt und übersät mit undefinierbaren braunen Spritzern. Blut?
„Ha, ha, ha, du hast einen Vogel, Isa und definitiv zu viele Krimis gesehen und gelesen!“, sagte ich laut zu mir.
Vor der Tür begann Mrs. Penibel einmal mehr ihre furchtbar schmutzige Treppe mit dem Staubsauger zu malträtieren. Ich war mir sicher, gleich würden die Geräusche des Wischmopps hinzukommen. Wie gut, dass nicht alles gleichzeitig ging. Mrs. Pomfries Bed & Breakfast musste wohl ständig komplett ausgebucht sein. Na ja, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Ich drehte ihr, hinter verschlossener Tür, eine lange Nase.
Das Amulett lag angenehm warm in meiner Hand. Ich betrachtete es näher. Die Drachen hatten grüne Augen. Wie ich, kam mir in den Sinn, während die Einhörner goldene Augen hatten. Wie von selbst legte ich es mir um den Hals und ließ es in meinen Ausschnitt gleiten. Entschlossen machte ich mich daran, die Pergamentrolle zu entrollen. Vielleicht würde ich nun endlich mehr über mich erfahren. Weshalb mich meine Eltern weggegeben hatten und ob und wo sie noch lebten. Mit klopfendem Herzen und zwischenzeitlich schweißnassen Händen entrollte ich das alte Papier ganz und strich es vorsichtig glatt. Ich hatte die Augen zugekniffen, lauschte dem Rauschen meines Blutes und dem Pochen meines Herzens.
„Na los jetzt, sei kein Frosch!“, murmelte ich, um mir Mut zu machen. Ich hatte so lange gehofft, gewartet und gebetet, dass ich mehr über meine Herkunft erfuhr. Doch alle Suchen nach meinen leiblichen Eltern waren vergeblich geblieben. War es nun endlich so weit? Augen öffnen und beruhigen. Los, Augen öffnen und beruhigen, ging ich in Gedanken mein neues Mantra durch. Seufzend holte ich Luft und begann zu lesen:
„Der Krieger durch Liebe gebunden.
Ein Kind das gefunden.
Zu richten und zu binden das alte Geschlecht.
Ein Pakt aus Blut und Tränen gemacht.
Was war und wird sein mit vereinter Macht.
Um zu öffnen, des Buches Tor und zu binden das Gift der Vier.
Im Herzen des Moors.“
Was war das für ein Witz? Und wo war die versteckte Kamera? Ich sah mich in meinem Zimmer um. Nein. Es war alles so, wie ich es verlassen hatte. Abgesehen vom Kleid im Schrank. Die Landschaftsbilder hingen an Ort und Stelle, sogar meine halb ausgeleerte Handtasche lag noch auf dem wackeligen Schreibtisch herum. Ich seufzte laut, las es noch einmal und noch einmal, drehte und wendete das Papier. Schließlich fand ich auf der Rückseite, fast hätte ich es übersehen, eine krakelige Schrift die besagte: „Geh durchs Tor. Duncansby Head. Sonnwende. Kind zurück.“
Das Pergament fiel aus meiner Hand. Lieber Gott, das konnte nicht sein! Meine Gedanken schlugen einen Salto nach dem anderen. Sam entführt? War das möglich? Aber wieso? Woher zum Teufel hatte Agnes diese Schriftrolle?
Fragen über Fragen schwirrten in meinem Kopf und ich hatte nicht eine plausible Antwort, nicht eine. Am Rande der Hysterie ließ ich alles zerstreut liegen und warf mich aufs Bett. Mein Herz fühlte sich an wie eine Zeitbombe, die jeden Augenblick explodieren würde. Bum bum bum. Mein Puls raste und mir war fürchterlich schlecht.
Logisch, gab ich mir selbst die Antwort. Du hast nichts, fast nichts gegessen. Was, wenn die Entführer Geld wollten? Ich war arm wie eine Kirchenmaus. Wer waren sie, er oder es? Mrs. Pomfrie war fertig mit ihrem Hausputz und ich fing erneut an zu heulen. Irgendwann schlief ich vor Erschöpfung ein.
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