„Die Kleine ist in Sligachan geboren, hat aber einen englischen Ausweis. Laut Mrs. Pomfrie hat sie dort was zu erledigen.“ Er zuckte mit den Schultern und ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, bei dem Gedanken an Isandora und Mrs. Pomfrie.
„Hat dich der alte Drache nicht gleich gelyncht?, fragte Colin erstaunt. „Das wundert mich!“
„Pah, du hast ihr Gesicht nicht gesehen, als ich die Kleine ins Zimmer getragen habe. Als ob der Teufel persönlich ihr Haus betreten hätte. Ich konnte sie die ganze Zeit vor der Tür auf- und abgehen hören.“
Sie lachten beide lauthals los und hörten erst damit auf, als sie bemerkten, dass die anderen Gäste sie anstarrten.
„Guter Gott ich wäre zu gerne dabei gewesen. Allein Mrs. Pomfries Gesicht!“
„Nein, Colin, ich glaube kaum, dass ich auf diese Kleine Eindruck gemacht habe. Auch wenn sie so voll war wie zehn Schotten. Ich hab noch nie eine Frau gesehen, die so betrunken war und dennoch so kratzbürstig.“ Bewunderung schwang in seiner Stimme mit.
„Tja, das muss ein blindes Mädchen oder ein besonders cleveres Exemplar sein!“, gluckste Colin vergnügt, während sich Ian an seinem Bier verschluckte.
„Hat ihn abblitzen lassen, ha, gutes Mädchen!“
Ian wurde schlagartig ernst. Colin wusste doch ganz genau, dass man solche Dinge in seiner Gegenwart besser nicht erwähnte.
„Fühlst dich wohl in deiner Ehre gekränkt. An den Hörnern gepackt, hä, Mac?“, frotzelte Colin fröhlich weiter. Er schien völlig unbeeindruckt von Ians Zorn. „Also Mac...“
„Wenn du nicht auf der Stelle dein Schandmaul hältst, dann gerbe ich dir das Fell!“, polterte Ian zornig.
Colin sah seinen Freund verdutzt an. Schließlich breitete sich ein Grinsen über sein Gesicht, das für Ians Geschmack entschieden zu schadenfroh und zufrieden wirkte. „Da scheint doch endlich einmal eine Frau deinen Schutzpanzer zu durchdringen, mein Lieber! Das wurde aber auch Zeit.“
Zuhause, wo dein Herz ist
Als ich mich durchrang, endlich loszufahren, war es schon Mittag geworden.
Und die Menge an Breakfast -Tee, die ich in einer schnuckeligen Teestube zu mir genommen hatte, forderte ihren Tribut. Ich war gezwungen, mehrmals anzuhalten, um meine Blase zu entleeren. Jeder Kilometer, der mich näher ans Kloster und an die Umgebung meiner Kindheit brachte, bereitete mir körperliche Schmerzen und Unwohlsein.
Ich hatte Angst.
„Gott verzeiht alles!“, pflegte Schwester Agnes zu sagen. Aber was, wenn ich Gott nicht verzeihen konnte?
Er hatte mir meine Eltern genommen, Oli Buchanan, meinen besten Freund, den einzigen Mann, mit dem ich mir hatte vorstellen können, alt zu werden und meinen über alles geliebten Sohn Sam.
Wie konnte ich ihm das verzeihen?
Seit Sam weg war, war ich innerlich tot und nur mit Selbstmord-Gedanken beschäftigt. Die Buchung des Fluges, die Anmietung des Leihwagens oder Skye als Ziel meiner Reise, das alles war ungeplant und wie in Trance geschehen. Seit ich hierher gefunden hatte, hatte ich weder Augen für das saftige Grün des Grases, noch für die duftenden Rosen oder das strahlend schöne Wetter, das mit außergewöhnlich viel Sonne und fehlendem Nebel aufwartete. Ein Wetter, das zu anderen Monatszeiten Touristenmassen anziehen würde. Für mich hatte Schottland seinen Zauber verloren.
Konzentrier dich auf die Straße, ermahnte ich mich selbst. Das beständige Brummen des Motors und Clannads ruhige Musik aus dem CD-Player lullten mich ein und beruhigten mich zumindest.
Denk positiv, sagte ich mir. Was genau tat ich eigentlich hier? Ich bemühte mich, bewusst zu atmen. Ein und aus, ein und aus. Vor meinem inneren Auge stiegen Bilder auf wie Seifenblasen, nur kurz an der Oberfläche, um dann zu platzen: ich schwanger mit Sam und daneben sein Erzeuger Paul.
„Mach es weg, Schlampe! Glaub nicht, dass du je auch nur ein Pfund siehst. Wessen Bastard ist es?“
Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Wortlaut und daran wie unsäglich dumm ich mir vorgekommen war. In einem erbosten Wutanfall hatte ich meine Haarmähne mit der Küchenschere bis auf drei Zentimeter abgeschnitten. Mit wehenden Fahnen war ich umgezogen. Neue Haare, neues Leben.
Paul hatte sich nie bemüht, uns zu finden und ich zog es vor, keinen Kontakt mit ihm zu haben.
Ich sah Bilder von Sam - bei der Geburt, beim Schulanfang und am Tag des Ausflugs mit seiner Patentante Rose, bei dem er verschwunden war. Einfach so, am helllichten Tag. Mit gerade mal sechs Jahren. Nicht ganz acht Monaten waren seither vergangen.
Meine Gedanken machten einen Sprung zurück auf die Straße und zu einer Kurve, die ich gerade noch erwischte.
Verdammt! Wie hatte mein Psychologe gesagt?
„Sie müssen in die Zukunft sehen und die Vergangenheit ruhen lassen.“
Nun, das war leichter gesagt als getan. Die Stunden am Kilt Rock fielen mir ein. Was hätte er wohl dazu gesagt? Vermutlich wäre ich in einer Klapsmühle gelandet.
Der Riese kam mir in den Sinn: Ian Tormod Robert MacLeod. Seltsamerweise hatte ich mir, trotz der Menge Alkohol, den Namen merken können. Ich verdrängte den Gedanken an diese tiefbraunen Augen. Nur nicht wieder weinen, Isa! Ganz ruhig. Der Weg war mein Ziel und ich war fast da. Upps, fast wäre ich an der Abzweigung nach Sligachan vorbeigefahren.
Die Straße – falls man sie so nennen mochte – war genauso schlecht wie vor sechzehn Jahren, als ich, gerade zwanzig Jahre alt, mit einem Kopf voller Träume gegangen war. Schlagloch folgte auf Schlagloch und dazwischen tief ausgefahrene Rinnen. Nun war ich wieder hier, schämte mich, und war ein Schatten meiner selbst. Wie zum Teufel sollte ich es Schwester Agnes erklären, dass ich mit Gott gebrochen hatte? Dass dieser Gott nicht mehr der Meine sein konnte, da er mir alles genommen hatte, was mir lieb und teuer war? Wie? Ich wusste es nicht!
Sligachan war ein kleines Nest, mit nichts als einer Hauptstraße, die schnurgerade auf das Kloster St. Mary zuführte. Es thronte auf einem kleinen Hügel und drum herum gab es nur ein paar verstreute Bauernhäuser und Felder soweit das Auge reichte. Von Weitem gesehen, hinterließ dies den Eindruck einer Patchwork-Decke. Das dazugehörende Waisenhaus lag ein Stück abseits des Klosters, ein unscheinbarer Bau aus rotem Backstein, mit einem typischen rosengesäumten Kiesweg und weiß gestrichenem Lattenzaun.
Ich parkte auf dem kleinen penibel gepflegten Besucherparkplatz und stieg mit wackeligen Beinen aus. Eine Kulisse wie aus einem dieser Touristenführer:Nobel, kitschig, doch sehr charmant.
„Und um die Ecke kommt der Prinz geritten und das prachtvolle Schloss liegt gleich hinterm Berg“, philosophierte ich leise vor mich hin.
Mir war unbeschreiblich flau im Magen und ich kam mir unendlich klein, jung und naiv vor.
Die Sonne knallte heiß vom Himmel, die Rosen verströmten wohlriechende Düfte und die Bienen summten. Plötzlich vermisste ich meine Nikon. Hier hatte ich perfekte Postkarten-Motive und meine Kamera lag auf meinem Bett in Mrs. Pomfries Bed & Breakfast.
Verflixt!
Der Kies unter meinen Füßen knirschte bei jedem meiner Schritte. Ich war Zuhause. Wie selbstverständlich lief ich auf das kleine Gatter unter dem Rosenbogen zu und öffnete es. Ein durchdringendes Quietschen ertönte und ließ mich zusammenzucken, doch es kam niemand.
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