Mrs. Pomfrie war jedoch das weitaus größere Problem. Eine ältere, streng katholische Dame, mit noch strengeren Ansichten. Ein richtiger Hausdrachen, dem es gar nicht gefallen würde, wenn ausgerechnet er eine offensichtlich betrunkene Frau ablieferte. Mit Sicherheit würde sie ihm alle möglichen Schandtaten unterstellen, die er nicht begangen hatte. Zumindest nicht mit dieser Frau.
Zugegeben: Er war kein Kostverächter. Frauen gefielen ihm. Sehr sogar. Aber nicht diese hier. Sein Findling entsprach genau dem Typ Frau, der einem Mann nichts als Ärger einbrachte. Und davon hatte er in der Vergangenheit mehr als genug gehabt.
Amadain! Hast wohl immer noch nichts dazugelernt!
Mit einem Seufzer brachte er den Mini vor Mrs. Pomfries Bed&Breakfast zum Stehen, schälte sich aus dem Gefährt und machte sich daran, seinen Fahrgast aus dem Wagen zu hieven.
Wer zu tief ins Glas schaut ...!
Ein Klopfen wie von tausend Hämmern weckte mich unsanft auf.
„Kindchen, sind Sie wach?“, flötete Mrs. Pomfrie.
Ich fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch, was mir mein Kopf sofort äußerst übel nahm und mit einer Sternchenschar vor den Augen quittierte. Mit einem ordentlichen `Rums´ prallte die schwungvoll aufgestoßene Tür gegen die Wand, wo eine Delle davon zeugte, wie oft dies schon geschehen war.
„Ts, ts, ts, Kindchen, Kindchen, was machen Sie nur?“
Ich zog mir erschrocken die Decke bis zur Nasenspitze und wünschte mir sehnsüchtig ein Loch, um darin zu verschwinden. Mit mehr Lärm als meinem malträtierten Kopf zuträglich war, stellte sie klirrend ein Tablett auf meinem Nachttisch ab. Augenblicklich schwebte der Duft nach frischem Toast, Tee und Würstchen durchs Zimmer. Fast genauso schnell drehte es mir den Magen um. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie mich an und rümpfte missbilligend die Nase, sodass ihre Brille einen Moment einen Hopser machte.
„Das Beste ist, etwas zu essen Kindchen! Glauben Sie mir nur. Sie sind schon ganz grün um die Nase!“
Ich wollte schon widersprechen, aber sie ignorierte mich einfach und wuselte geschäftig durchs Zimmer. Öffnete die Blümchen - Vorhänge und sammelte unter Gebrummel meine im ganzen Zimmer verteilten Kleider auf. Moment. Meine Kleider?
Oh Gott! Meine Kleider.
Mir wurde schlagartig kalt und heiß. Verflixt! Was hatte ich überhaupt noch an? Ich hielt den Atem an. Glücklicherweise war Mrs. Pomfrie im Begriff zu gehen.
„Wenn Sie mich noch brauchen, Kindchen, zögern Sie nicht, mich zu rufen!“
Geräuschvoll fiel die Tür ins Schloss. Mit einem Ruck riss ich die Bettdecke zurück und atmete in einem lauten Seufzer aus. Zumindest war der Riese kein Lüstling. Ich hatte noch mein T-Shirt nebst Boxershorts an. Mit einem Satz war ich aus meinem Bett und an der Tür.
„Ähm, Mrs. Pomfrie, äh, wie …?“, rief ich ihr den Gang hinterher.
Mit dem Staubwedel in der Hand drehte sie sich um. „Keine Sorge, Kindchen! Mr. MacLeod war so freundlich. Nicht, dass es sich schickt, Kindchen. Aber in Ihrem Zustand, mmpf. Und ausgerechnet ein Gentleman, wie dieser Mr. MacLeod!“
Sie sah mich an wie eine Eule, die soeben dabei war eine Maus zu verspeisen. Sie musterte mich von oben bis unten. Beschämt wurde mir bewusst, dass ich ja nur ein T-Shirt und Boxershorts trug und mich zudem in einem hellen, langen Korridor befand, wo jeden Moment ein anderer Gast aus seinem Zimmer treten konnte. Schnell drehte ich mich um und knallte die Tür hinter mir zu.
„Beruhig dich!“, murmelte ich vor mich hin, wie ein Mantra. „Tief ein- und ausatmen, Isa, ganz ruhig!“
Meine Beine trugen mich nicht mehr und ich rutschte wie in Zeitlupe am harten Holz der Tür entlang zu Boden. Meine Hände krallten sich, nach Halt suchend, in den weichen, rosa Plüsch des Teppichs.
„Sam, oh Samy. Mami hat es wieder nicht geschafft“, flüsterte ich gequält und rollte mich zu einer Kugel zusammen.
Irgendwann, nach einiger Zeit, raffte ich mich auf. Der Tee war zwar nur noch lau und den Toast zwang ich trocken hinab, dennoch weckte beides meine Lebensgeister, was eine anschließende heiße Dusche noch verstärkte. Fast zu heiß, dank einer absurden Konstruktion von Mrs. Pomfrie verstorbenen Mannes, einem Klempner. Die wie folgt aussah: Man musste in eine alte Badewanne steigen, welche tatsächlich noch Löwentatzen als Beine hatte. Dort stöpselte man einen Schlauch an den Wasserhahn, drehte rechts warm und links kalt Wasser auf, betete, dass man die richtige Temperatur erwischte, und dass der Schlauch auf dem Wasserhahn blieb. Mit ganz viel Glück kam dann aus dem alten Brausekopf, der unbeweglich in die pinkfarbenen Wandplättchen betoniert war, ein dünnes Rinnsal Wasser. Wahlweise in kochend heiß oder eiskalt!
Ich beschloss, endlich nach Sligachan ins Kloster St. Mary zu fahren. Im dortigen Waisenhaus war ich aufgewachsen. Als gerade mal Dreijährige hatte Schwester Agnes mich dort am Gedenkstein des Heiligen Georgs gefunden, mit nichts am Leib als einem Hemdchen, eingewickelt in eine Babydecke. Um den Arm trug ich ein Namenskettchen mit dem Namen Isandora Dorothea. Das war vor mehr als 30 Jahren. Vom Heiligen Georg hatte ich meinen Nachnamen bekommen.
Wie oft hatte ich als Kind gefragt, ob ich nicht wenigstens einen normalen Vornamen bekommen könnte. Schwester Agnes ermahnte mich immer, mich in Demut zu üben, schließlich hätten meine Eltern mir einen Namen gegeben und es sei nicht rechtens diesen anzuzweifeln.
Im Gang pfiff Mrs. Pomfrie eine Melodie vor sich hin, was äußerst praktisch war. So wusste ich, wo sie war. Denn wenn ich eines nicht wollte, dann Mrs. Pomfrie begegnen. Leise schlich ich die frisch gebohnerte alte Holztreppe hinunter, welche absurderweise im Moment fast nackt aussah, ohne die rosa Plüschtreppenschoner. Ich kam mir vor wie mit 16 Jahren auf der Flucht vor Schwester Agnes. Für einen winzigen Moment fühlte sich mein Herz nicht an wie aus Eis.
Mein Leihwagen stand perfekt eingeparkt vor dem typischerweise mit schottischen Rosen umwucherten Cottage. Fast, als wäre der gestrige Abend nie passiert. Okay. Meine Kopfschmerzen sagten allerdings etwas anderes.
Wie hatte dieser Kerl es angestellt mich über eine Stunde vom Kilt Rock zum Auto zu schleifen? Klar, er war ein Riese, aber ich war keine Elfe.
Guter Gott, fiel es mir siedend heiß ein, hatte ich ihn tatsächlich angespuckt? Wie bedankte man sich für so etwas? Mit einem Gutschein für die Reinigung?
Was mich zu der Frage brachte: Wieso verflixt noch mal, konnte ich keinem Fettnäpfchen ausweichen? Ich sprang immer mit beiden Beinen hinein. Verflixt!
Langsam drehte ich mich zum rosenumwachsenen Cottage von Mrs. Pomfrie um. Es strahlte eine trügerische Ruhe aus mit all den Rosen, den Schmetterlingen und den summenden Bienen. Wie in einem dieser furchtbar kitschigen Rosamunde - Pilcher - Filme. Tatsächlich war ich versucht, meine kleine Reisetasche zu nehmen und einfach abzuhauen.
„Oh nein. Nein Isa, so nicht!“, machte ich mir Mut.
Na toll, jetzt fing ich an, Selbstgespräche zu führen!
Beim Einsteigen in meinen Mini stellte ich sofort fest, dass der Riese ihn gefahren hatte. Ich kam gerade noch mit Ach und Krach an die Pedale, so weit hinten war mein Sitz und der Boden war voller festgetrocknetem Schlamm.
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