Mit pochendem Herzen folgte ich dem Gartenweg, umrundete das Haus, lief verbotenerweise quer über den akkurat gepflegten Rasen, um die alte schottische Kiefer zu erreichen.
Meine Kiefer.
„Danke, danke, dass du noch da bist!“, murmelte ich dem Baum zu. Mit meiner Hand fuhr ich über das wackelig eingeritzte Herz in der Rinde. `O & I´ stand dort. Es war noch immer gut lesbar. Oliver & Isandora. Ich lehnte die Stirn gegen das in die Rinde geritzte Herz. Innerlich zitternd bis ins Mark.
Oliver Buchanan war ein trauriges Kapitel meines Lebens. Von Kind an war er an meiner Seite, mein bester Freund und letztlich mein Partner und Geliebter.
Oli wurde nur 24 Jahre alt. Er, mein Weltverbesserer, mein allzeit bereiter Tröster, der Kindskopf schlechthin. Oli, mit dem ich Kinder in die Welt setzen wollte, ging als Sanitäter in den Kosovo und kam nie mehr zurück. Eine Mine zerfetzte den Wagen, in dem er mitfuhr. Zerriss mein Herz und diese Wunde wollte und wollte nicht heilen. Bis heute.
Langsam drehte ich mich um, ließ mich mit dem Rücken an dem rauen Stamm zu Boden gleiten. Mein Atem ging stoßweise, aber ich begann mich wieder zu beruhigen. Das war schon immer so gewesen, die Kiefer, mein Baum, hatte schon immer etwas an sich, das mich ruhig werden ließ, mich tröstete und letztendlich wieder zum Lächeln brachte. Wie oft waren wir in seine Krone geklettert oder hatten unter ihm gesessen, Oli und ich. Ob unsere alte Schatzkiste wohl noch hier vergraben war? Unter ihrem Nadeldach fühlte ich mich geborgen und behütet. Hier war ich Zuhause. Ich blieb noch eine Weile regungslos sitzen, beobachtete die Vögel und lauschte dem rauschenden Lied des Windes, der die Kiefernadeln sanft streichelte. Versuchte erneut dem Zauber Schottlands zu erliegen. Warum funktionierte es nicht mehr? Wieso hatte dieser Ort seine Magie für mich verloren?
Schließlich erhob ich mich und ließ den Baum hinter mir. Auf dem Weg zum Kloster konnte noch nicht einmal der knirschende Kies das Klopfen meines Herzens und das Rauschen meines Blutes in meinen Ohren übertönen. Der Wind verstrubbelte mir den kläglichen Rest meiner Frisur. Ganz damit beschäftigt mein nicht zu bändigendes Haar in den Haargummi zu stecken, bemerkte ich die junge Novizin zunächst nicht.
„Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein, junge Dame?“ Ein offenes, freundliches und in Anbetracht der förmlichen Anrede erstaunlich junges Gesicht sah mir fragend entgegen.
„Ähm, also ...“, druckste ich herum. „Ich bin auf der Suche nach Schwester Agnes. Sie wissen nicht zufällig, wo ich sie finden kann?“, fragte ich nun etwas selbstbewusster.
Einen Moment lang sah sie mich irritiert an, doch auf einmal zeichnete sich Erstaunen in ihrem Gesicht ab. „Dem Herrn sei Dank für seine unendliche Güte. Sie sind es, Sie sind Isandora. Das sind Sie doch, oder?“ Sie war ganz aufgeregt.
„Mhm, ja die bin ich, aber …?“
„Oh, deine Haare, sie hat so oft von dir gesprochen. Sie hat es sich so sehr gewünscht. Sie wollte dich unbedingt noch einmal sehen!“
Noch einmal sehen?, fragte ich mich. Ich wollte zu einer Frage ausholen, aber sie nahm mich an der Hand und zog mich unter eifrigem Geplapper hinter sich her.
„Zündhölzer, deine Haare, wie Zündhölzer, pflegte sie zu sagen. Ja, ja in der Tat. Sie hatte völlig recht. Im Übrigen bin ich Schwester Silvia. Guter Gott, dass ich das noch erleben darf!“
Wie ein Kleinkind fühlte ich mich an ihrer Hand und es war mir ziemlich unangenehm. Leider ließ Schwester Silvia mich nicht mehr los. Einige Nonnen begegneten uns mit fragenden Blicken, doch dies brachte Schwester Silvia nicht zum Anhalten, während ich wenigstens versuchte, freundlich nickend zu grüßen.
„Natürlich müssen wir zuerst zur Mutter Oberin, dich anmelden. Du kennst das ja, nicht wahr? Bist hier aufgewachsen, hab ich gehört.“
Sie erwartete, glaubte ich, keine Antworten auf ihre Fragen, da sie immer weiter quasselte und dabei strahlend lächelte.
„Du warst ein richtiger Wildfang, erzählt man sich. Fotografierst du gerade hier in unserer schönen Gegend? Agnes hat erwähnt, dass eine sehr begabte Fotografin aus dir geworden ist.“
Nein, ich versuche, mich hier in dieser schönen Gegend umzubringen, antwortete ich in Gedanken sarkastisch. „So ähnlich könnte man es nennen.“
Gleich würde mich der Blitz treffen und ich sah vorsichtig in den strahlend blauen Himmel. Glücklicherweise war Gott, mit seinen Gedanken-Röntgen-Strahlen woanders zugange.
„So was, so was, eine berühmte Fotografin hier in St. Mary!“
„Also eigentlich bin ich nicht berühmt. Genau genommen gar nicht.“
Wieso nur hatte ich das Gefühl, dass sie mir nicht im Geringsten zuhörte? Sie brummelte immer noch etwas von Berühmtheit vor sich hin. Vermutlich gab ich ein absolut lächerliches Bild ab an der Hand von Schwester Silvia. Aber was konnte ich tun? Sie ließ mich einfach nicht los. Hoffentlich sah und hörte uns niemand!
Ich sehnte das Zimmer der Mutter Oberin herbei. Ha, von wegen berühmte Fotografin, dachte ich. Okay, ich hatte ein paar nette Fotos für National Geographic geschossen, doch vier Fotos machten noch lange keine Berühmtheit aus mir. Meistens verdiente ich mir mein Geld, indem ich Fotos für Zeitschriften oder Landschaftsreportagen schoss, also nichts Aufregendes. Scheinbar hatte ich vergessen, dass man das auf der ‚Insel‘, auf dem Land, nicht so sah. Ich hätte es besser wissen müssen!
Mein Sohn hatte mein Zuhause nie kennengelernt. Ich war zu beschäftigt gewesen, meine kleine Familie über Wasser zu halten, dass ich keine Gelegenheit dazu gefunden hatte, ihm St. Mary zu zeigen, was ich nun bitterlich bereute.
Plötzlich fühlte ich mich verloren, klein und unsagbar verletzlich. Himmel! Ausgerechnet jetzt, während ich innerlich zitternd vor Aufregung, an der Hand einer Novizin den Kreuzgang entlang eilte, musste mich meine Vergangenheit einholen!
Selbst die wärmenden Strahlen der Sonne, die den Kräutergarten in der Mitte des Klosterhofes malerisch beleuchtete, vermochten nicht, die Kälte in meinem Inneren zu vertreiben. Ebenso wenig wie der betörende Duft, der von den Kräutern ausging, mich beruhigte.
Mitten im nächsten Schritt wurde ich unsanft abgebremst, indem ich gegen Schwester Silvia lief, die vor einer alten, grob gezimmerten Holztür stehen blieb,.
„’tschuldigung“, nuschelte ich verlegen.
„Macht nichts! Wir sind jetzt da.“ Schwester Silvia rückte ihre Ordenstracht zurecht, steckte die Haare wieder sauber unter ihren Schleier, holte tief Luft und klopfte schließlich energisch gegen die Tür. Ein ‚Herein‘ hatte ich nicht vernommen, aber wir traten dennoch ein.
Der Raum war lichtdurchflutet, die vielen Bleiglasfenster sahen aus, als wären sie hell erleuchtet. Ein überdimensionaler Schreibtisch nahm fast den ganzen Raum für sich ein. Oh ja, ich kannte diesen Raum. Auch wenn die kleine, drahtige Person hinter dem Schreibtisch nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Mutter Oberin meiner Kindheit hatte, so erinnerte sie mich trotzdem an diese. Ich sah mich mit acht Jahren, in einem zerrissenen Kleid und blutigen Knien. Die Ehrwürdige Mutter Margareta, die vehement versuchte, mir zu erklären, dass kleine Mädchen nichts auf Bäumen zu suchen hatten. Es schickte sich nicht für ein katholisches Mädchen, die Beine zu entblößen, egal was Oliver Buchanan mir gesagt hatte. Mein Kleid musste ich selbst flicken und bekam noch 40 Ave Marias oben drauf. Das hatte ich nie vergessen, nur geändert hatte es damals nichts. Am nächsten Tag war ich wieder auf dem Baum – unserer Kiefer – und soweit ich mich erinnern konnte, hatten Oli Buchanan meine entblößten Beine, zumindest zu diesem Zeitpunkt, nicht interessiert. Er hatte allerdings auch nie gepetzt, dass die Idee mit dem Baum von mir alleine war.
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