Mit dem Gedanken einer Lüge kam ich langsam zu mir und wurde wach. Ich hatte Sam belogen, hatte ihm gesagt, es gäbe keine Monster. Wie falsch ich doch gelegen war. Das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ließ mich letztendlich ganz wach werden und hochschrecken. Ians Arm lag um meine Taille geschlungen, er hatte mich im Schlaf an sich gezogen und nun hatte ich Mühe, mich unter seinem Arm hervorzuwinden. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, setzte ich mich auf.
Der Traum hallte immer noch in meinem Kopf nach und ich rieb mir müde die Augen. Wie lange hatte ich geschlafen? Ian schnarchte leise und ich musste schmunzeln. Plötzlich rutschte ich erschrocken mit dem Rücken gegen die Wand des Turms und prallte schmerzvoll gegen den unebenen Stein.
„Aua!“, zischte ich durch die zusammengepressten Zähne. Ich hatte ihn gesehen und saß nun stocksteif da.
Er saß locker an die Wand gelehnt, mir gegenüber und beobachtete uns interessiert. Ein markantes Gesicht mit durchdringenden, grünen Katzenaugen und pechschwarzen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. Die Kopfseiten waren wie bei den Irokesen kahlrasiert.
War er ein Indianer? Am auffälligsten waren jedoch die spitzen Ohren und die Tätowierungen. Das Gesicht und alles, was nicht unter seiner Kleidung verschwand, wies schwarze Tätowierungen auf. Selbst die kahlrasierten Seiten seines Kopfes. Ich registrierte dies alles in Sekunden, streckte meine Hand nach Ian aus, energisch rüttelte ich an ihm.
„He, Ian!“, zischte ich leise. „Ian, aufwachen, sofort!“
„Hmpf“
„Bitte, Ian! Wir haben Gesellschaft!“, flehte ich, was sofortige Wirkung zeigte. In einer fließenden Bewegung sprang er aus dem Strohbett und stand breitbeinig, mit erhobenem Schwert, vor mir. Nun gut, allerdings nur im Hemd! Trotz der ernsten Lage hatte ich direkt Schwierigkeiten nicht zu lachen. Selbst dem Fremden schien es so zu gehen. Zumindest sah es für mich so aus.
Wollte ich euch töten, wärt ihr längst tot!, schnarrte die Stimme. Es war dieselbe Stimme, wie am Strand und wir hörten sie nur in unseren Gedanken. Ich stand langsam auf und stellte mich neben Ian. Unsere Blicke trafen sich kurz und er senkte das Schwert, jedoch schob er mich hinter sich, um mich mit seinem Körper zu schützen. Geschmeidig erhob sich der Fremde und verbeugte sich vor uns.
Ihr erlaubt, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist Nikoma und ich bin hier, um euch in Sicherheit zu bringen. Die Stimme vibrierte in unseren Köpfen.
„Ach ja? Was du nicht sagst! Vor wem - oder sollte ich fragen vor was- willst du uns in Sicherheit bringen, Fremder?“ Ians Stimme klang hart, Entschlossenheit und Kampfgeist schwangen in ihr mit.
Nun, da wären zum einen die Moorguhls. Mit ihnen hattet ihr bereits das Vergnügen. Sie sind auf der Jagd, der Jagd nach euch. Dann wären da noch die Krük, die Dunkelelben, sie wissen noch nicht, auf welcher Seite sie stehen und die Noctrum sind im Aufruhr. Sie wollen die Frau!
Er versuchte, einen Blick auf mich zu erhaschen, was ihm nicht gelang, da Ians Körper mich völlig verdeckte.
„Wieso dieses rege Interesse an uns?“, fragte Ian kalt.
Der Fremde musterte Ian abschätzend und belustigt, wie mir schien.
Es ist wegen der Prophezeiung, überlegte ich.
Ja, Frau und jetzt seid ihr hier, um jene zu erfüllen!
Die Antwort kam noch, bevor ich den Gedanken an die Pergamentrolle zu Ende gebracht hatte.
„Du liest unsere Gedanken?!“, rutschte es mir heraus.
„Von was reden wir hier? Könnte mich jemand aufklären? Was zum Henker ...?“Ian blickte voller Argwohn von mir zu dem Fremden und zurück.
„Wer bist du? Und wieso kannst du nicht reden?“ Meine Frage schien ihn zu belustigen. Ich sah hinter Ian hervor und er entblößte mit einem Lächeln eine Reihe scharfer Zähne. „Ein Freund. Selbstverständlich kann ich sprechen, wenn ich möchte. Doch die Gedankensprache ist mir lieber“, sagte er belustigt und nicht mehr in unseren Köpfen.
„Aber wieso?“, fragte ich neugierig.
„Ich halte es nicht für notwendig, laut zu sprechen.“
„Hallo. Ich bin auch noch da. Wo bleibt meine Erklärung?“ Und wenn du sie anrührst, bist du ein toter Mann!, fügte Ian im Stillen hinzu.
„Das habe ich nicht vor. Auch wenn es fraglich wäre, ob du siegreich wärst!“, antworte der Fremde und klang mehr als amüsiert.
Ians ganzer Körper war gespannt wie ein Bogen und seine Hand war zur Faust geballt.
Mach dich niemals über einen Schotten lustig, kam es mir in den Sinn. In einer Geste der Beruhigung legte ich meine Hand auf seine Schulter.
„Die Prophezeiung besagt, dass ein Krieger und eine Mutter kommen werden, um das Volk unserer Welt wieder zu einen und die Feinde zurückzutreiben.“
„Aha. Gehe ich recht in der Annahme, dass wir das sein sollen? Wir, die noch nicht einmal wissen, wo genau wir sind? Ha, ha! Das ist ein ganz schlechter Witz, mein Freund“, konterte Ian ironisch, dabei ließ er den Fremden keine Sekunde aus den Augen.
Ein Duell der Blicke, während Nikoma mich genauso wenig aus den Augen ließ, was mich zutiefst beunruhigte.
„Wieso wir? Was macht dich so sicher?“, polterte ich los.
„Die richtige Zeit, der richtige Ort. Euer Sohn ist hier, nicht wahr?“
Eisige Finger gruben sich in mein Herz. Ich sprang hinter Ian hervor. „Wo ist Sam? Was habt ihr mit ihm gemacht?“
Ian hatte das Schwert fallen lassen und hielt mich mit beiden Armen umschlungen, so wild gebärdete ich mich.
„Ich kratz dir die Augen aus, du Scheißkerl, wenn du es mir nicht sagst! Wo? Wo ist mein Kind?“ Ich hatte meine Wut nicht mehr unter Kontrolle. Wie eine Wilde versuchte ich, immer wieder auf den Fremden loszugehen.
„Lass das, Isa! Du verletzt dich noch!“ Das ‚oder mich‘ sprach er nicht aus, aber ich konnte es in seinem Gesicht lesen. „Beruhige dich, Sommersprosse. Bitte!“
Ian musterte den Fremden kalt. Beide waren gleichwertige Gegner, berechnende Gegner. Ich war mir sicher, bei einem Kampf würde es keinen Gewinner geben.
„Die Moorguhls haben ihn. Sie werden ihn zu ihren Herren, den Lords of Noctrum bringen. Er wird leben, solange sie deiner nicht habhaft werden! Ihr müsst zu den Wäldern Y-Haras. Die Waldelfen und die Elben erwarten euch. Dort werdet ihr alle Antworten bekommen, die nötig sind. Folgt mir, die Zeit drängt!“
Er ließ uns keine Zeit für neue Fragen oder schnippische Antworten, sah uns noch nicht einmal mehr an. Wie selbstverständlich ging er auf direktem Weg zum Fenster. Sprang mit weit ausgebreiteten Armen und wie Flügel flatternder Kleidung hinab.
„Was macht er? Verflucht!“
Ian war mit zwei Schritten an dem gotischen Fenster, ich brauchte vier. Der Ausblick war derselbe. Als ob nichts geschehen wäre, lehnte Nikoma an einem Baum. Neben diesem warteten zwei gesattelte Pferde.
Читать дальше