Nur wann? Ihnen lief die Zeit davon und Ian hatte nicht das Gefühl, dass es ratsam war abzuwarten, wer oder was nach der abgelaufenen Zeit kommen würde. Er riss einen Streifen Leinen von seinem Hemd und verband sich notdürftig, so gut es eben mit einer Hand und den Zähnen ging, sein schmerzendes Handgelenk. Gut, es war nicht die Schwerthand, aber darauf anlegen wollte er es dennoch nicht. Nur gut, dass ich wenigstens weiß, wie man ein solches Schwert benutzt, schoss es ihm durch den Kopf. Liebevoll strich er ihr eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und nahm sie vorsichtig und mit schmerzgepeinigtem Handgelenk auf den Arm. Diese Frau war so unberechenbar, so geheimnisvoll. Sie überraschte ihn dauernd aufs Neue.
Es war ein qualvoller Aufstieg. Mehr als einmal verlor er das Gleichgewicht und drohte auf den unebenen, teils losen Steinstufen zu stolpern und samt Isa in die Tiefe zu stürzen. Eisern unterdrückte Erinnerungen drängten sich in seine Gedanken.
„Du warst ein kleiner Junge, Ian. Du konntest absolut nichts tun. Oh, Georgie“, flüsterte er tonlos. Himmel, Ian Mac, das alles ist Vergangenheit! Konzentrier dich!
Sein sturer Wille und die Angst um die Frau in seinen Armen, halfen ihm, die dunklen Dämonen der Vergangenheit niederzuringen. Isa regte sich unruhig, ein warmes und weiches Gewicht in seinen Armen.
Ian rief sich den Abend am Kilt Rock ins Gedächtnis und wie er am Torbogen auf ihr gelegen hatte.
Mmmh, ihr Duft! Er hatte sich fast nicht beherrschen können. Am liebsten wäre er sofort über sie hergefallen. Hatte sie seine Erregung wahrgenommen? Er betete inständig, dass dem nicht so war. Auf jeden Fall war sie nahe daran gewesen es zu erraten. Ian grinste vor sich hin.
„Puh, wie lange ist die Treppe noch?“ Über ihm war immer noch der Turmfalke – seltsam, als ob er sie beobachtete.
Unter ihnen rauschte das Meer und die Luft roch nur noch nach Salz und frischem Tang. Seltsame kleine Blumen wuchsen in den Ritzen zwischen den losen Steinen. Die gibt es bei uns nicht, dachte Ian.
Wo um alles in der Welt waren sie gelandet? Es war Duncansby Head – gleichzeitig aber auch nicht. Vielleicht eine andere Zeit? Nur: Zukunft oder Vergangenheit? Sein Blick glitt zu Isa in seinem Arm und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu berühren. Sie war real – alles andere kam ihm fremd und doch auf eine Art und Weise bekannt vor.
„Konzentriere dich auf deinen Weg, du Narr!“, ermahnte er sich selbst. Mittlerweile war es Nacht und nur der Vollmond schenkte ihm wenigstens etwas Licht auf diesem unwegsamen Weg. Die Stufen waren eigentlich nicht mehr als lose Steinplatten und diese brachen ihm des Öfteren einfach unter den Füßen weg. Was im Normalfall schon schlimm genug war, aber mit Isa auf dem Arm, ohne Hände, mit denen er das Gleichgewicht halten konnte, war es ein sehr heikles Unterfangen. Keine Sekunde zu früh erreichte er das ersehnte Ende.
„Ifrinn!“, murmelte er und atmete erleichtert aus. Wie befürchtet war auch der Kiesweg verschwunden. Stattdessen gab es einen etwas besseren Trampelpfad.
Aus der traumlosen Schwärze meiner Bewusstlosigkeit kam ich langsam wieder zu mir. Das Erste, was ich im dämmerigen Licht wahrnahm, war Ians besorgtes Gesicht und dass ich in seinen Armen lag. Er roch gut - nach Whisky, Erde, dem Hauch eines Parfüms, Blut und Schweiß. Wir waren wieder oben am Anfang der Stufen.
„Ian!“, krächzte ich. „Ian, lass mich runter.“ Mein Mund war staubtrocken.
Er gab ein Stöhnen von sich, das irgendwie erleichtert klang. Kein Wunder, er musste mich die ganze Treppe hochgeschleppt haben. Langsam stellte er mich ab.
„Alles in Ordnung mit dir?“
„Äh, glaub schon. Hm, danke“, gab ich kleinlaut von mir. Ich drehte mich um. Unter uns rauschte das Meer und die Moorguhls waren nicht mehr zu erkennen.
Stop. Halt. Woher wusste ich das?
Woher zum Henker wusste ich, dass diese Viecher Moorguhls hießen?
Weil sie dich suchen, Prinzeschen , antwortete plötzlich eine schneidende Stimme in meinen Gedanken und ließ mich zusammenzucken.
„Ian, Ian der Kies ist weg“, stellte ich um Ablenkung bemüht fest und blickte konzentriert auf meine Füße.
„Ach, tatsächlich“, kam die trockene Antwort.
„Ian.“
„Hmm?“
„Ian. Also … Danke für … du weißt schon.“
Er sah mir tief in die Augen und ich scharrte verlegen mit den Füßen im Dreck.
„Konnte dich ja schlecht bei den Viechern liegen lassen, Sommersprosse!“
„Dein Handgelenk! Was ist mit … also, ich bin ja nicht so leicht und … Es war weit, nicht?“, stotterte ich.
Er zeigte auf sich. „Also, ich bin Schotte und keine Memme“, gab er gespielt entrüstet von sich. „Außerdem wiegst du nicht mehr als ein paar Säcke Kartoffeln, Süße.“ Er gab mir einen leichten Klaps auf meinen Allerwertesten.
„Also hör mal!“, gab ich entrüstet zurück und warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.
„Wir sollten schleunigst Land gewinnen. Ich habe keinen Bedarf mehr an diesen Viechern und zum Kämpfen fehlen mir die Kraft und eine brauchbare Hand mehr!“
„Moorguhls. Diese Viecher, sie heißen Moorguhls.“
„Was? Was hast du gesagt?“
„Also, sie heißen Moorguhls. Das hab ich gesagt.“
Zornig funkelte er mich an. „Aha, und woher zum Teufel weißt du das?“
Ich schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Wenn ich das nur wüsste. Es war auf einmal in meinem Kopf.“
„Ach so. Einfach so. Du hast nicht zufällig gewusst, dass sie hier sind, um uns umzubringen?“
„Was unterstellst du mir eigentlich, Ian? Nein, verflixt, ich versteh’ das doch auch alles nicht. Müsste hier nicht der Parkplatz ...?“
Wir waren ein ganzes Stück gelaufen, während wir uns unterhielten, doch auch der Parkplatz war wie vom Erdboden verschluckt.
„Oh Gott, Ian. Ich hab Angst.
Er sah mich an und lächelte wieder. „Mmhm. Mir geht es ähnlich. Lass uns schneller gehen. Mehr Abstand gewinnen, ja?“
Im strammen Marsch – zum Rennen fehlte uns die Kraft – liefen wir weiter. Die Angst saß uns im Nacken. Mir gingen die grausigsten Dinge durch den Kopf. Ian hingegen spielte den starken Schotten. Er hatte zwar zugegeben, auch etwas Angst zu haben, ließ jetzt aber nichts mehr davon hören. Dennoch merkte ich, dass er sich auffällig oft umdrehte und seine Augen voller Sorge waren.„Zuallererst müssen wir von dieser Insel runter. Ich habe keine Lust auf einer so kleinen Insel zu bleiben, wenn es womöglich mehr von diesen Moorguhls gibt!“
„Ach ja! Und wo bitte sollen wir hin?“
„Auf das Festland natürlich.“
„Natürlich.“, echote ich.
„Tja, das ist zumindest größer. Also mehr Platz für uns und die Moorguhls!“
„Tatsächlich“, erwiderte ich trocken. „Und wie soll das gehen? Wer weiß, ob es überhaupt Festland gibt oder eine Brücke dahin? Wir haben Nacht, falls es dir entgangen sein sollte und wo immer wir sind, es scheint ein anderes Schottland zu sein!“
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