Zum ersten Mal seit vielen Jahren also dirigiert Victor Steinmann, der große, weltbekannte Maestro, wieder das einheimische Orchester in seiner Heimatstadt Bern, wo er vor genau fünfzig Jahren mit einem Aufsehen erregenden Auftritt den ersten Stein für seine Weltkarriere gelegt hat. Als großes Jubiläumskonzert ist der heutige Abend angepriesen worden, back to the roots, wie es, natürlich ganz neumodisch auf Englisch, auf allen Plakaten in der Stadt in großen Lettern zu lesen ist.
Das Programm besteht aus Sergej Prokofiews zweitem Violinkonzert und Jean Sibelius’ erster Symphonie, zwei Werke, die Steinmann häufig geleitet hat, die aber für den anstehenden Jubiläumsanlass trotzdem erstaunlich sind und bei Johansson ein Stirnrunzeln verursachen. Er hätte für die Heimkehr des Weltstars Beethoven, Brahms oder etwa Bruckner erwartet, für die Interpretation deren Werke Victor Steinmann sich einen Namen gemacht hat. Doch nichts von alldem, keine deutschen Komponisten, die Steinmann mit großer Vorliebe aufs Programm setzt, nein, russische und finnische Musik soll gegeben werden.
Das ist doch wieder einmal typisch für diesen exzentrischen Eigenbrötler, denkt sich Johansson grimmig, immer gegen die Erwartungen und immer gut für Überraschungen. Man erwartet Bruckner, also gibt er Sibelius. Kichernd schließt er das Programmheft und macht ein paar Schritte zur Universitätsbibliothek hin, die neben dem Kultur Casino liegt, um dem ganzen Trubel der heranströmenden Konzertbesucher und der ihnen auflauernden Fotografen ein wenig zu entfliehen. Er versucht, sich an seine erste Begegnung mit Victor Steinmann zu erinnern.
Natürlich hatte er ihn häufig in Konzerten erlebt, das erste Mal war im Musikverein in Wien gewesen – ein denkwürdiger Auftritt damals –, bevor er ihn dann nach einer Aufführung angesprochen und kurz darauf auf Steinmanns großzügigem Anwesen in der Schweiz zu einem Interview getroffen hatte. Viele Jahre war es her. Lange Gespräche waren es gewesen, die er mit dem Maestro hatte führen dürfen. Danach herrschte Funkstille. Die herzliche, warme, aber auch herausfordernde Atmosphäre, welche während der Besuche geherrscht hatte, schlug in Eiseskälte um, als »Der Klang der Macht« erschienen war. Das kontroverse Buch, in dem Stig Johansson mit gnadenlosem und messerscharfem Blick auf diktatorische Verhältnisse von Dirigenten zu ihren Orchestern hingewiesen hatte und mit dem er weltweit für Aufsehen gesorgt und sich damit endgültig in die Elite der Musikkritiker hineinkatapultiert hatte.
Den besprochenen Orchesterleitern hatte das Buch verständlicherweise überhaupt nicht gefallen, sämtliche Klagen konnten jedoch von den Anwälten seines Verlages pariert werden, mit der Begründung, dass die Auslegung der zahlreichen Gespräche, die der Musikkritiker mit den Pultvirtuosen geführt hatte, völlig subjektiver Natur wären und auch als ebensolche verkauft würden und daher nicht anfechtbar seien – man lese nur sorgfältig die Einleitung, in der Johansson sich ausführlich dieser Problematik widme.
Mit den Dirigenten, die er in seinem Buch ihrer übermäßig autoritären Arbeitsweise wegen angegriffen hatte, war natürlich kein Kontakt mehr möglich gewesen, und Johansson hatte es umso mehr genossen, sie in seinen Publikationen und Konzertbesprechungen immer wieder zu kritisieren – wenn auch durchaus maßvoll – und ihre Führungsmethoden zu hinterfragen.
Victor Steinmann ist aber immer ein Spezialfall geblieben. Stig Johansson bewundert diesen Orchesterleiter nach wie vor aufrichtig für seine außergewöhnlichen Interpretationen, die ihm so manches unvergessliche Klangerlebnis beschert haben, und er hat sich ausgiebig mit dessen Lebensgeschichte auseinandergesetzt. Aus diesem Interesse ist auch der Plan zu seinem neuen Projekt entstanden, an dem er momentan mit gewaltigem Eifer arbeitet – man könnte sogar von einer Form von Verbissenheit sprechen –, der ihn teilweise so in Anspruch nimmt, dass alles um ihn herum sekundär wird und er sich phasenweise von seinem Umfeld auf beängstigende Weise abgrenzt.
»Eine Steinmann-Biografie?« Timothy Waxman, sein New Yorker Verleger, lachte laut heraus, als Johansson ihn vor ein paar Monaten von seiner Idee in Kenntnis setzte. »Ausgerechnet du willst eine Biografie über den großen Victor Steinmann schreiben? Na, der wird sich aber darüber mächtig freuen! Du wirst bestimmt auf seine tatkräftige Unterstützung zählen dürfen! Es wird bestimmt ein Traum für ihn in Erfüllung gehen, dass du den Faden, den du im ›Klang der Macht‹ aufgegriffen hast, endlich weiterspinnen und aktualisieren wirst.« Der Sarkasmus triefte richtiggehend aus seinen Worten heraus und legte sich wie eine zähflüssige Masse zwischen die beiden Männer. Johansson nahm Waxmans Ausbruch mit einem wohlwollenden Grinsen zur Kenntnis.
Die beiden kennen sich schon lange, der Verleger hat unzählige Publikationen Johanssons veröffentlicht, und es verbindet sie mehr als eine geschäftliche Beziehung. Viele durchzechte Nächte mit Alkohol und leichten Mädchen, gemeinsame Urlaubserlebnisse, aber auch persönliche Schicksalsschläge haben die Freundschaft der zwei Männer zu einer tiefen Symbiose aus Respekt und Vertrauen heranwachsen lassen.
»Sieh mal, Tim«, versuchte sich Johansson zu rechtfertigen. »Ich brauche keine Unterstützung von Steinmann für dieses Projekt. Mein Netzwerk ist groß genug, um an die wichtigen Informationen, aber auch an die versteckten Heimlichkeiten und netten Indiskretionen heranzukommen. Der Name Steinmann ist beinahe ein Label wie Coca Cola – jeder kennt es, aber niemand weiß genau, was dahintersteckt. Victor Steinmann ist ein Mysterium, das Interesse der Leser, und bestimmt nicht nur dasjenige der Musikfreunde, wird gewaltig sein.«
»Da hast du wohl nicht unrecht.« Timothy Waxman lehnte sich zurück und schien angestrengt nachzudenken. »Es gibt aber auch noch die wirtschaftliche Seite für dein Buch. Ist der Markt an Dirigentenbiografien nicht gerade etwas übersättigt? Und täusche ich mich nicht, wenn ich mich zu erinnern glaube, dass gerade im letzten Jahr eine Steinmann-Biografie von dieser Österreicherin erschienen ist, wie heißt sie doch gleich?«
»Katharina Pletka. Aber ich bitte dich, Tim.« Johansson winkte verärgert ab. »Die Pletka gehört zu Steinmanns Hofstaat, ist ein fixer Bestandteil seiner Entourage. Sie überwacht sämtliche Öffentlichkeitsarbeit, versorgt die Presse mit den notwendigen Informationen und achtet gründlich darauf, welchen Medien sie die Mitteilungen überhaupt zukommen lässt. Wenn du dich abfällig über seine Arbeit äußerst, kannst du nicht mehr damit rechnen, von ihr berücksichtigt zu werden. Die paar wenigen Journalisten oder Autoren, die überhaupt zu Steinmann vorgelassen werden, sind wohlüberlegt ausgesucht worden und vergöttern allesamt den Maestro. Sag doch ehrlich, Tim: Was kannst du von solch einer Biografie erwarten, die eine Frau wie Katharina Pletka geschrieben hat?«
»Du willst also eine unautorisierte Biografie schreiben«, sinnierte Waxman. »Ich muss gestehen, das klingt reizvoll, und vor allem: Da steckt gehörig Zunder darin. Sozusagen also die schonungslose und wahrheitsgetreue Antwort von Stig Johansson auf Katharina Pletkas Schönwäscherei.« Er trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch, ein Zeichen dafür, dass sein Hirn auf Hochtouren lief. Johansson wusste, dass er in solch einem Moment schweigen musste, um die Gedankengänge seines Gegenübers nicht zu stören. Er lehnte sich zurück und betrachtete die Buchrücken im mächtigen Regal, das sich hinter Waxman auftürmte. Das Trommeln hörte von einer Sekunde auf die andere auf, und der Verleger beugte sich so weit über den Schreibtisch, dass Johansson befürchtete, er würde im nächsten Moment zu ihm herüberkriechen.
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