„Hier her, Detective!“, rief ein Mann, so groß und breit wie ein Schrank, und winkte. Shane zwang sich, nicht mehr darüber nachzudenken. Es ist Samstag, der elfte November. Ich war noch nie in Chinchilla. Und diesen Detective da vorn kenne ich auch nicht, sagte er sich.
„Meint er, wir sind blind?“, sagte Detective Tamara Thompson, die dicht hinter Shane herging, in beigefarbenem kurzen Rock und dunkelblauem Top, und mit den Händen fuchtelnd die Fliegen vor ihrem Gesicht zu verjagen suchte. Vor einem Jahr war sie als vorübergehende Verstärkung in das Homicide Squad Team gekommen, und dann geblieben. Obwohl Shane sie von Anfang an anziehend fand – sie war dunkelhaarig, schlank, sportlich, intelligent und schlagfertig - hatte er seinem Ruf, hinter jeder Frau her zu sein - getrotzt und nie mehr als einen freundschaftlichen Drink mit ihr genommen. Darüber verspürte er einen gewissen Stolz.
„Detective Herb Kennedy“, stellte sich der muskelbepackte Polizist mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt vor und lächelte ihn aus einem sympathischen Gesicht an. Shane nickte nur. Herb Kennedy, dachte er, diensteifrig, ehrgeizig und korrekt. Er bückte sich unter der Absperrung hindurch. Vor ihm lag ein entwurzelter Baum. Die flache Grube, die seine Wurzel hinterlassen hatte, war als Grab benutzt worden. Blitzlichter des Polizeifotografen zuckten, die Männer von der Spurensicherung bewegten sich still, steckten Schilder mit Nummern in die Erde, nahmen Abdrücke, stülpten Plastiktüten über die Hände der Leiche. Am Boden, neben der Grube, hockte Dr. Eliza Lee, die Gerichtsmedizinerin, und verschloss ihre Arbeitstasche.
„Ausgerechnet heute, mitten im Turnier!“ Herb Kennedy schüttelte den Kopf. „Sie können sich nicht vorstellen, was hier los war!“ Seine Stimme war eine Idee zu hoch für seine Statur, fiel Shane auf und erwiderte nichts. Immer wieder erlebte er, dass Menschen nicht den Mord selbst, sondern die durch ihn hervorgerufene Störung als Zumutung empfanden. Er war offensichtlich nicht der einzige, dem das Mitgefühl abhanden kam, dachte er.
Shane betrachtete die Tote. Eine junge Frau, Ende Zwanzig vielleicht. Sie trug einen kurzen Jeansrock, ein gebatiktes rotes T-Shirt, keine Schuhe. Ihr Haar war schulterlang und blondgelockt, unnatürlich blond und unnatürlich gelockt. Über der Stelle, wo das rechte Auge vor der Zerstörung durch Gliedertiere gesessen hatte, klaffte ein schwarzes, an den Rändern ausgefranstes Loch von etwa zehn Zentimetern Durchmesser.
„Auf den ersten Blick würde ich sagen, seit etwa einer Woche tot“, sagte Dr. Eliza Lee nüchtern und erhob sich, „Läsion des Schläfenbeins - ist auch möglicherweise die Todesursache.“ Elizas Blick streifte Tamara kurz und kühl.
„Hier war jemand offensichtlich unter extremem Zeitdruck“, bemerkte Tamara an Shane gewandt, ohne von Eliza Notiz zu nehmen, „oder einfach nur faul und schlampig.“
„Die Erde ist sehr hart“, erwiderte Shane.
„Jemand ist mit dem Wagen von der Straße zum Polocrosse-Platz gefahren und dann weiter ins Gebüsch bis zu der Stelle hier.“ Der Mann von der Spurensicherung deutete auf den Abdruck fast unmittelbar vor der Grube. „Wir haben lediglich ganz am Rand des Spielfeldes ein paar Abdrücke im weichen Sand gefunden, dann erst wieder den hier. Die Teams haben schließlich schon gespielt. Schuhabdrücke haben wir nur von der Fotografin. Man muss bedenken, falls noch mehr Spuren da waren, hat sie der Hund mit seinem Gebuddel zerstört.“
Shane sah die aufgeworfene Erde um die Grube herum.
„Das war in der Tasche ihres Rocks.“ Der Kollege hielt Shane einen Plastikbeutel hin, in dem sich ein bedruckter Zettel befand. „Papier von `nem Zucker.“
„Hotel Chinchilla“, las Tamara mit zusammengekniffenen Augen.
„Liegt am Ortseingang, direkt am Ballone Highway“, sagte Kennedy, da sind Sie vorbeigefahren.“
Eliza Lee strich sich eine Strähne ihres zurückgebundenen schwarzen Haares aus der Stirn. Shane betrachtete ihre olivfarbene Haut, ihre asiatischen Gesichtszüge, die Farbe ihrer Lippen - und verdrängte die Erinnerung an das letzte Zusammentreffen. Ein verpatzter Abend, an dem sie sich gestritten hatten. Sie war schlecht gelaunt gewesen, hatte sich über etwas geärgert und es an ihm ausgelassen. Kurze Zeit später hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie jemanden kennengelernt hatte. Shane war gekränkt.
In die sekundendauernde Stille brach der Schrei eines Kookaburras.
„Wovon stammt dieses Loch in ihrem Kopf?“ zwang er sich zu fragen. Eliza blieb vor ihm stehen, schüttelte den Kopf.
„Kann’ ich dir erst sagen, wenn ich sie auf meinem Tisch habe.“ Er konnte es nicht vermeiden, ihr nachzusehen, wie sie sich mit langen Schritten zwischen den Bäumen hindurch entfernte, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Shane?“ Tamaras Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, „was ist jetzt?“ Seine kleine Flucht war ihr nicht entgangen. Auch dieser kräftige Detective starrte ihn an. Alle schienen ihn anzustarren, verlangten nach Initiative, Befehlen, nach jemandem voller Zuversicht und dem unerschütterlichen Glauben, diesen Fall aufzuklären.
„Weiträumige Untersuchung des Ablageplatzes der Leiche“, ordnete Shane an, „vielleicht haben wir Glück und es finden sich noch ein paar brauchbare Spuren. Schuhe der Toten, oder irgendetwas, das der Täter verloren haben könnte.“
Detective Herb Kennedy deutete über Shanes Schulter zum Polocrosseplatz.
„Jane Denham, die Fotografin, die die Tote gefunden hat, wartet übrigens da drüben.“
Hinter den Bäumen, am Rande des Spielfeldes, konnte Shane einen Wagen mit offener Tür erkennen. Er marschierte los. Wie erdrückend heiß es hier im Busch war.
Vor der Tür eines weißen Ford Kombis hockte eine Gestalt auf dem Boden und rauchte eine Zigarette. Zu Ihren Füßen lag ein großer, zotteliger Hund, der nur müde mit dem Schwanz klopfte, als er Shane kommen sah. Jane hob den Kopf. Ihr Gesicht unter dem Akubra war bleich. Sie musste Mitte Vierzig sein, doch die Sonne des Buschs hatte ihre Haut um einige Jahre schneller altern lassen. Die Ärmeln ihres verwaschenen Jeanshemdes hatte sie über die Ellbogen aufgekrempelt. Ihre Unterarme sprenkelten unzählige Sommersprossen.
„Wie soll ich jetzt meine Fotos schießen?“, sagte sie als er vor ihr stand. „Die haben das Turnier abgeblasen.“ Ihre sommersprossige Hand mit der Zigarette zitterte. Sie stieß ein kurzes, heiseres Lachen aus. „Nicht zu fassen, was?“
Er wusste nicht, ob sie die Leiche meinte oder die Tatsache, dass das Turnier abgesagt wurde.
„Ich hab’ zuerst gedacht, Harvey hat ein Känguru oder so was gefunden, weil er sich so aufgeführt hat. Dann, als ich näher kam, sah es aus wie ein verwitterter weißer Ast“, sie saugte an der Zigarette, sah ihn noch immer nicht an, „dann hab’ ich mich gebückt und hab’ die Finger gesehen.“
In dem Moment sprang sie auf und stürzte hinter den Kofferraum. Harvey, der Hund, blickte Shane mit trüben Augen an. Shane hörte, wie sie sich übergab. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Von hier aus konnte er über das weite, aufgewühlte Spielfeld sehen, an dessen Rändern in der glühenden Hitze Autos und Pferdeanhänger zwischen Klappstühlen parkten. Polocrosse-Spieler und Zuschauer, sicher fast hundert Menschen, hatten sich in den Schatten der Bäume und unter das Dach eines Wellblechverschlag auf der anderen Seite des Spielfeldes zurückgezogen. Von weitem sah er ihre Tricots, Helme und Hüte. Mit Polocrosse, einer Kombination aus Polo und Lacrosse, bei dem zwei Mannschaften auf Pferden mit einem Schläger, der am Ende einen Korb aus Netz hatte, einem Ball hinterher jagten und ihn ins gegnerische Tor zu werfen versuchten, hatte er sich noch nie näher beschäftigt. Er verstand weder etwas von Pferden noch von Lacrosse oder Polo. Doch wenn er einmal Gelegenheit zum Zuschauen gehabt hatte, dann musste er feststellen, dass ihn die Wendigkeit und Kraft der Pferde und die Schnelligkeit und Geschicklichkeit der Reiter sehr beeindruckte.
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