Auf den nächsten fünfzig Kilometern kreuzen etliche Antilopen, Gnus und Gazellen den Verkehr, einmal erahnt Hannes hinter den Büschen sogar einen echten Elefanten. Am Wegrand trollen Affen herum, die aufmerksam den Verkehr beäugen. Geier und Kadaver zeugen vom nicht immer gelungenen Zusammenleben zwischen Natur und Blech. Der Detektiv muss höllisch aufpassen. Ein Zusammenprall kann teuer werden. Für ein einziges dummes Huhn, das er vor Jahren mal aus Versehen totgefahren hatte, hatte er der Bäuerin damals 10.000 Shilling zahlen müssen! Im Mikumi-Park warnen Schilder, dass ein totgefahrener Pavian mit über 100 Dollar zu Buche schlage, ein Warzenschwein koste 500, das Überfahren von Löwen 5.000, angefahrene Giraffen oder Elefanten gar das Dreifache. Ein Unfall würde den Detektiv auf Lebzeit ruinieren.
Als Hannes den Nationalpark endlich hinter sich hat, folgt am Rand der Udzungwa Mountains bald die nächste Herausforderung: Der ewig lange, kurvenreiche Aufstieg auf den ostafrikanischen Graben und das Iringa-Plateau. Umgestürzte Wracks am Straßenrand erzählen traurige Geschichten. Knietief abfallende Kanten an den Seitenstreifen, Leitplanken weit und breit nicht in Sicht, Kriechspuren Mangelware: So kämpfen sich dutzende Lkws vor ihm die rund 1.000 Höhenmeter hinauf, die das Tiefland von der Hochebene trennt – welch ein Tribut an die Schwerkraft! Der Spritverbrauch des Suzukis schnellt in unbekannte Höhen, vielleicht hätten sie vor dem Aufstieg tanken sollen.
„Geht das noch lange so weiter? Dann kommen wir ja nie an!” Hannes wird ungeduldig. Jedem gerade mit aufheulendem Motor überholten Laster folgt unmittelbar der nächste, ihre Reisegeschwindigkeit sinkt auf kaum mehr zwanzig Stundenkilometer.
„Die Reise dauert, solange sie dauert. Hast du etwa eine Uhr? Zieh sie einfach ab!” Ambi hatte eine Zeitlang vor sich hingedöst, vielleicht sogar trotz Hannes Fahrstil ein wenig geschlafen. Später hatte sie drei Zeitungen überflogen, die am Morgen in Dar erschienen waren. „ Habe gerade in der Daily News gesehen, dass der Tingatinga den Regional Commissioner von Njombe nach Dar einbestellt hat. Soll wohl über die Morde berichten. Den hätte ich mir ja auch gern vorgenommen. Solange der seine Tage am Meer genießt ...”
„Das glaubst auch nur Du! Nix da, genießen! Der Präsident wird den grillen!”
„... solange jedenfalls kann ich mir den Abstecher nach Njombe sparen. Da fahren wir dann auf dem Rückweg vorbei. Vielleicht tauscht dein famoser Präsident den RC ja auch einfach aus, dann herrscht Ruhe im Karton.”
„Und du hast keinen mehr zum Interviewen. Deine defätistische Staatsferne, meine Liebe, wird dich noch in Teufels Küche bringen!”, zeigt sich Hannes freundlich besorgt. Wegen politischer Differenzen will er es sich mit seiner derzeitigen Lieblingsfrau auf keinen Fall verderben.
Die zunehmend grüner und üppiger werdende Landschaft scheint Ambi zu besänftigen. Ab und an lässt sich am Horizont im Norden ein Blick auf die glitzernden Fluten des mächtigen Ruaha River erhaschen. Die Hänge sind jetzt überall dicht bepflanzt mit Pinien und Baobabs. An den Straßenrändern häufen sich wieder meterhohe Holzkohlesäcke, ganz so, wie am Morgen bei der Abfahrt aus Dar es Salaam. Ab und zu wandern Paviane mit Affenbabys auf dem Rücken an der Verkehrsader entlang.
Liegengebliebene Fahrzeuge zeugen immer wieder von den Herausforderungen, die der ramponierte Zustand der viel zu stark befahrenen Fahrbahn an Mensch und Maschine stellt. Immer wieder auch bremsen Baustellen die Fahrt. Kilometerlang werden dann kaum befahrbare Sandstreifen neben der eigentlichen Trasse zur provisorischen Umleitung. Viele Häuser am Wegrand schmückt ein großes grünes X, das anzeigt, dass das Gebäude vielleicht morgen, vielleicht auch erst in einigen Jahren dem Ausbau der Straße wird weichen müssen, Widerstand zwecklos.
Kurz vor Iringa schlängelt sich die Straße ein weiteres Mal steil hinauf auf jetzt 1.600 Höhenmeter. Je näher Hannes und Ambi der Stadt kommen, desto belebter wird der Straßenrand – Frauen, die auf dem Kopf Waren vom Markt nach Hause bringen, Mütter mit Schulkindern an der Hand, Babys im Tuch, Männer, die Räder mit Holzkohlesäcken schieben. Es ist früher Nachmittag, endlich wird es kühler. Hannes steuert den Suzuki in eine Hope -Raststätte.
„Ambi, wir müssen tanken! Und ich brauch ein Choo ...”
„Okay, lass uns eine kurze Pause machen. Ich schau mal, ob ich uns was Frisches besorgen kann.” Nachdem sie erneut mehr als 100.000 Shilling für Benzin ausgegeben hat, ersteht Ambi bei einer älteren Händlerin am Rande der Tankstelle eine Kokosnuss für 500.
Als Hannes die Journalistin mit der Nuss entdeckt, motzt er: „Die ist doch bestimmt vertrocknet, soweit weg von der Küste ...”
„Halt mich nicht für blöd, Ndugu Detektiv! Nie! Wenn ich nicht wüsste, woran man eine frische Kokosnuss erkennt, dürftest du gar nicht neben mir sitzen! Eine schlechte Kokosnuss scheppert hohl oder gar nicht. Da schlägt das trockene Fleisch gegen die Schale. Kannste nur noch Öl draus pressen. Diese hier allerdings gluckert, wie du hörst, mit sattem Ton. Ihr Wasser schwappt in der Hülle, in der prallen Sonne würde sie platzen. Mach sie mal auf! Übrigens könnten wir das Wasser auch zum Kochen nehmen. Doch das kannst du bestimmt noch schlechter als einkaufen.”
Nach dieser Lehrstunde setzt sich wieder die Journalistin ans Steuer und folgt nun der A104, der Nord-Süd-Magistrale, die vom kenianischen Nairobi über Arusha und Dodoma bis nach Sambia führt. Ab Iringa ist sie glücklicherweise durchgängig neu asphaltiert.
Kurz hinter der Stadt passieren sie ein Hinweisschild auf ein „Mkwawa-Museum". Das kleine Anwesen wenige Kilometer nördlich der Hauptstraße erinnert an Sultan Mkwawa, der Ende des 19. Jahrhunderts von hier aus den Kampf der Wahehe gegen die deutschen Kolonialisten befehligte, sieben Jahre erbitterten Widerstand leistete und so zum Nationalhelden wurde. Hauptausstellungsstück des Museums ist sein vermeintlich echter Schädel. 7.000 Rupien Kopfgeld hatten die kolonialen Herrenmenschen auf den „Reichsfeind” ausgesetzt, eine Summe, für die man sich damals eine Farm kaufen konnte. Sie reichte zum Verrat. Bedroht von den eigenen Leuten, umzingelt von anrückenden deutschen Truppen, beging Mkwawa 1898 Selbstmord.
Sein Leichnam soll von einem deutschen Feldwebel geschändet worden sein, der ihn köpfte. Seinen Vorgesetzten präsentierte er danach einen Schädel und kassierte die Prämie. Ob es sich dabei tatsächlich um den Kopf des Hehe-Sultans handelte, ist bis heute unbewiesen. Dessen späterer Weg nach Deutschland quer durch die Stätten hiesiger Rassenforschung konnte nie vollständig rekonstruiert werden. Seine Rückführung ins verlorene Kolonialgebiet war schon 1919 im Versailler Vertrag verlangt worden. 1953 endlich ließ der Gouverneur des nun britischen Treuhandgebiets Tanganyika einen passenden Kopf aus dem Bremer Übersee-Museum nach Iringa überführen. Auf dem Höhepunkt des antikolonialen Mau-Mau-Kriegs gegen seine Landsleute in der nördlich gelegenen Kronkolonie Kenia versuchte er sich so der Loyalität der Wahehe im Süden zu versichern.
„Wer besucht solche Museen?”, sinniert Ambi leise vor sich hin, woraufhin auch ihr Beifahrer endlich mal mit ein bisschen Wissen punkten kann. „Jedes Schulkind müsste da einmal gewesen sein! Künftige Generationen sollen wissen, dass unsere Vorfahren nicht kolonisiert werden wollten! Genau so einen Fall wie den vom geraubten Schädel Mkwawas haben wir auch in Moshi. Auch wir Wac hagga hatten einen Chief, der sich gegen die ungerechten Landforderungen der deutschen Eindringlinge wehrte. Mangi Meli hieß der, kämpfte zur gleichen Zeit wie Mkwawa und sogar zwei Jahre länger, bevor er geköpft wurde. Sein Schädel schwirrt bis heute irgendwo in der Weltgeschichte herum, mutmaßlich im Magazin irgendeiner deutschen Forschungsanstalt. Du weißt: Die Nachfahren finden keine Ruhe, solange seine sterblichen Überreste nicht zuhause beerdigt worden sind.” Erregt fügt Hannes noch hinzu: „Das zerstört die Verbindung zwischen den Generationen! Auch wir brauchen so ein Museum!”
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