Der Postbote ging auf Nasenlänge an das Visier heran und schaute durch den schmalen Schlitz, der die Augen bedeckte. Als er die Bewegung und das Weiße in Kurts Augen sah, erschrak er so, dass seine Hände vorschnellten, als wolle er ein Gespenst von sich wegstoßen. Kurt, durch das lange Stehen geschwächt, hob das Schwert, um die Balance zu halten. Er trat einen Schritt zurück, die Schwertspitze zeigte auf die Brust des Postboten. Um das Gleichgewicht zu halten, hob Kurt das Schwert mit beiden Händen, was aussah, als wollte er ihm den Kopf abschlagen. Mit weit aufgerissenen Augen floh der Postbote schreiend aus dem Haus und wurde nicht mehr gesehen. Dieses war wörtlich zu nehmen, da beim nächsten Mal ein anderer Postbote erschien.
Mittlerweile waren sie in der Küche angekommen. Jessika versuchte, sich aus Kristians Hand zu lösen. Er lachte sie an, zog sie näher an sich heran. Sie blickte ihn überrascht an, wusste nicht, was sie davon halten sollte.
»Kinder«, sagte Großvater, »nun setzt euch doch endlich an den Tisch.« Der Tisch war groß, auf der langen Seite hätten je fünf Personen Platz gehabt. Jessikas Eltern hatte nie viel Wert auf Etikette gelegt. Solange keine Gäste im Hause waren, aß man lieber in der Küche als im Esszimmer. Die Eltern reisten viel und waren deshalb zurzeit nicht anwesend.
»Maria«, sagte Großvater, »wir alle haben den lieblichen Duft deines Kuchens gerochen, jetzt zeige uns, dass er auch so gut schmeckt.« Maria schüttelte nur den Kopf.
»Großvater«, sagte Kristian, »was ist eigentlich mit dem Brunnen passiert, der mitten im Burghof stand?«
»Woher weißt du, dass da einer gestanden hat«? fragte er.
»Soviel ich weiß, hat es da nie einen gegeben, aber es gibt hier irgendwo einen alten Stich, vielleicht findest du da, was du suchst.«
»Den meine ich nicht«, sagte Kristian, »darauf ist kein Brunnen zu sehen.«
»Vielleicht steht etwas in dem uralten Buch, das in der Truhe der Bibliothek liegt«, sagte Jessika.
»Hast recht,« meinte Großvater, »in dem alten Buch.«
In der Zwischenzeit war Jessika schon aufgestanden, um das Buch zu holen. Es sah wirklich alt und vergriffen aus. Vielleicht gehörte sie von Anfang an zum Haus. Vorsichtig wurde die erste Seite aufgeschlagen. In Ermangelung von Papier hatte jemand die Ansicht des Burghofs auf die Seite gemalt. Ein Blick genügte, um den Brunnen zu erkennen. Jessika und Großvater blickten Kristian ungläubig an.
»Mein Junge«, sagte er, »bist du ein Spökenkieker, oder hast du das Buch schon mal in deine Hand gehabt?«
Was sollte er sagen, wenn er sein Geheimnis noch nicht preisgeben wollte?
»Bestimmt nicht,« sagte er, »das Buch sehe ich heute zum ersten Mal. Ich war heute im Burghof, und mir war, als hätte dort ein Brunnen gestanden.«
»Wie kommst du darauf«? fragte Großvater, »ich habe dort noch nie einen Brunnen gesehen.« Maria hatte schweigend zugehört.
»Erinnerst du dich«, sagte Kristian zu Jessika, »gestern, als wir uns trafen. Du fragtest, warum ich so blass ausgesehen habe, da ist es passiert, ich habe den Brunnen in der Burg gesehen. Vielleicht war es ein Traum«, schwächte er ab, obwohl er es besser wusste, »aber den Brunnen habe ich gesehen.«
»Lernt man das in der Meditation«? fragte Jessika, »wann kannst du mir das beibringen, ich will den Brunnen auch sehen.«
»So schnell geht das nicht, außerdem wolltest du nie etwas davon hören.« Er hoffte, dass er ihr damit erst mal die Luft aus den Segeln genommen hatte.
»So leicht kommst du mir nicht davon«, sagte sie, »du verschweigst mir etwas.«
Kristian stand auf und kam ihr ziemlich nah. Sein Blick in ihre Augen ließ sie verstummen.
»Was soll das, willst du mich hypnotisieren?«
Verunsichert ging sie einen Schritt zurück.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte er. »Maria, vielen Dank, der Kuchen hat wirklich gut geschmeckt.«
Großvater hatte es plötzlich eilig.
»Kinder«, sagte er, nachdem er seine Kaffeetasse mit einem Schluck leerte, »ich muss jetzt mein Mittagsschläfchen halten, wir sehen uns.«
»Was soll denn das«? fragte Jessika, »gerade, wo es spannend wird, verkrümelt ihr euch.«
Jessika sagte nichts, als Kristian sie verließ und durch die Halle nach draußen ging. Nicht mehr an Großvater denkend, zog dieser ihn plötzlich zur Seite, als er durch das Tor gehen wollte.
»Mein Junge, egal was du vorhast, ich bin dabei.« „Vielleicht ist es besser wir reden jetzt darüber,“ dachte Kristian, wer weiß, was sonst noch alles passiert.
»Komm, wir gehen zu den Pferdeställen, dort können wir in Ruhe reden.«
Großvater machte große Augen, als er ihm seine Geschichte erzählte.
»Was willst du als Nächstes machen«? fragte er aufgeregt.
»Ich werde heute Nacht durch das Tor gehen, falls ich nicht wieder zurückkomme, weißt du, dass etwas passiert ist. Erzähle keinem etwas.«
Wie man das Tor öffnete, verschwieg er vorsichtshalber. Großvater brachte es fertig und marschierte durchs Tor hinter ihm her.
»Wenn alles gut geht, komme ich morgen wieder vorbei.«
»Endlich ist mal wieder etwas los«, freute sich Großvater, »ich drück dir die Daumen.«
Es war jetzt später Nachmittag. Einige Dinge musste Kristian sich noch kaufen. Er überlegte, frische Batterien für seine Taschenlampe, etwas zu essen und zu trinken, falls er einen Tag länger bleiben musste.
Ein Hupen hinter ihm ließ ihn erschreckt zusammenfahren und zur Seite springen. Jessika drehte das Fenster ihres kleinen Geländewagen herunter.
»Ich muss sowieso ins Dorf, da habe ich mir gedacht, dass du sicher froh bist, wenn du nicht zu Fuß gehen musst.« Er stieg in ihr Auto und wollte ihr gerade danken, als sie sagte: »Meint ihr vielleicht, ich sei blöd und habe nicht gesehen, wie ihr beide noch zu den Pferdeställen geschlichen seid. Großvater ist wie verwandelt, er strahlt über das ganze Gesicht. Das müssen ja sehr wichtige Geheimnisse sein, die ihr vor mir verbergen wollt.«
»Beruhige dich, Großvater wollte, dass ich ihm etwas besorge, und ich habe ihm versprochen, mit keinem darüber zu reden.« Nach fünf Minuten Fahrt sagte Kristian: »Du kannst mich hier rauslassen, ich muss noch ein paar Dinge einkaufen.«
Wütend darüber, nichts Neues erfahren zu haben, trat Jessika auf die Bremse.
»Vielleicht schaue ich morgen wieder bei euch vorbei.« Er stieg aus, und bevor er noch etwas sagen konnte, gab sie Gas. Statt noch Einkäufe zu erledigen, wendete sie und fuhr den gleichen Weg zurück. So ein Luder dachte er, sie wollte mich nur aushorchen. Die Einkäufe hatte er schnell hinter sich gebracht. Wer weiß, was ihn erwartete. Zuhause angekommen packte er alles in seinen Rucksack und machte sich etwas zu essen. Den Wecker stellte er auf dreiundzwanzig Uhr und legte sich angezogen auf sein Bett, worauf er auch bald einschlief. Das laute Schrillen des Weckers ließ ihn erschreckt hochfahren.
Kristian merkte, wie er zunehmend nervöser wurde. Jetzt zu kneifen kam für ihn nicht infrage. In einer dreiviertel Stunde würde er den Tatsachen ins Auge sehen müssen.
Das Auto zu nehmen schien ihm zu verdächtig. Zu dieser Zeit würden die Autoscheinwerfer auf den Weg zur Burg eventuell jemand neugierig machen. Die Zeit war ja auch so eingeplant, dass er kurz vor vierundzwanzig Uhr durch das Tor gehen würde. Es war frisch und er war froh, dass er seinen dicken Pullover angezogen hatte. Der Mond hatte ein Einsehen mit ihm, sodass er die Batterien der Lampe schonen konnte.
Ein wenig unheimlich ragten die Umrisse der Burg bald vor ihm auf. Nachts war er noch nie hier gewesen, alles wirkte so bedrohlich.
Kapitel 1 Kristian geht durch das Tor.
Im Burghof angelangt, stellte er sich sogleich auf die Stelle, wo er gestern das Flimmern gesehen hatte. Ehe er es sich anders überlegen konnte, setzte er mit aller Kraft die Öffnungszeremonie in Gang. Das Flimmern zu seinen Füßen breitete sich aus, silbriges Licht erhellte die Stelle. Ein leichtes Frösteln stellte sich ein, es formte sich ein wabernder flimmernder pulsierender Ring. Um ihn tat sich eine Öffnung auf, die immer größer wurde. Auf der anderen Seite der Öffnung war es genau so dunkel wie vor der Öffnung. Abrupt wurde ihm klar, dass sich etwas verändert hatte, als er einen Schritt vortrat. Kristian blickte an sich herunter. Kein Flimmern, es war sehr dunkel, der Mond schien hinter einer Wolke verschwunden zu sein. Er sah das Tor nicht mehr und wollte schon zur Taschenlampe greifen, als er neben sich ein lautes Schnaufen vernahm. Erschrocken trat er einen Schritt zurück, stieß dabei gegen einen Holzeimer, der umkippte. Ein Pferd wieherte laut und schlug nach hinten aus gegen die Stallwand. Kristian war inzwischen klar, dass ihm der Übergang ins Mittelalter gelungen war. Das Geräusch eines zurückgleitenden Riegels erinnerte ihn, wo er war.
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