Bei Kriegsbeginn habe ich mich freiwillig gemeldet, mein Vater war entsetzt, wollte es verbieten, aber ich setzte mich durch. Die schwere Krankheit meiner Mutter – unheilbarer Krebs, ein Jahr vor dem Krieg ausgebrochen – hatte mich so hilflos gemacht, mich so niedergeschlagen, dass ich damals glaubte, im Kampfeinsatz für das Deutsche Reich kann ich einen neuen Sinn im Leben finden. So erkläre ich mir heute im Nachhinein selbst meine damalige spontane Entscheidung.
Mein Freund war der gleichen Meinung. Aber er wurde zu seinem großen Kummer beim Militär nicht angenommen, da er immer wieder starke Asthmaanfälle hatte. Wann immer ich Kriegsurlaub erhielt, hielt ich mich mehr bei ihm auf als zu Hause. Ich wusste, wie sehr er an allem teilnehmen wollte, was ich erlebte.
Und zu Hause warf mir mein Vater ständig vor, dass ich mein Leben riskiere, wegwerfe. Er ist als Freimaurer für friedliche Völkerverständigung und total gegen Kriege. Das hatte er von seinem Vater, der in derselben Loge gewesen war wie er, eingeimpft bekommen und zwar nach dessen Erfahrungen im Frankreichkrieg 1870/71.
Und nach dem Krieg, als ich zu studieren begann, wiederholt das Studium kurz unterbrach, wenn ich in Freikorps gegen Grenzüberschreitungen kämpfte – da tobte mein Vater. Er wollte und konnte meinen Einsatzwillen nicht verstehen. Dafür umso besser mein Freund, der mich um diese Aktionen direkt beneidete. Er stand zu dieser Zeit bereits kurz vor dem Abschluss seines Jurastudiums.«
Hier unterbrach er sich erschrocken: »Entschuldigen Sie vielmals, ich sollte mich kürzer fassen. Ich greife so weit aus, damit Sie besser verstehen, warum ich mich jetzt nach dem Treffen mit meinem Freund frage, ob ich mir etwas vorzuwerfen habe.«
Beatrice beruhigte ihn mit einem ermutigenden Lächeln: »Nein, ich verstehe Sie gut. Sprechen Sie bitte weiter.«
»Sie werden es besser verstehen« fuhr er fort »wenn ich Ihnen das heutige Gespräch schildere. Mein Freund arbeitet in der Kanzlei eines der angesehensten jüdischen Rechtsanwälte Breslaus, Max Jacobsohn, der auch sehr engagiert in der Jüdischen Gemeinde tätig ist. Ich hatte mich schon gewundert, dass mein Freund Walter mich an einem Samstag, also an einem Schabbat in die Kanzlei bittet, was nicht üblich ist. Aber ich hatte mir naiv vorgestellt: er kennt meine prekäre finanzielle Belastung aufgrund der Scheidung und will mir auf mein Drängen aus der Patsche helfen, am besten an einem Tag ohne meine Sprechstundenpflichten. Das will er auch, aber die ganze Situation ist jetzt für ihn und mich peinlich kompliziert geworden. Ach, was, kompliziert, sie ist ein – was soll ich sagen – ein Schock für mich und wie ich sicher bin, auch für ihn.
Jacobsohn kennt meinen Scheidungsfall mit allen finanziellen Anforderungen und weiß, dass mein Freund sich für mich einsetzt. Jetzt hat er davon Wind bekommen, dass ich neuerdings bei der SA mitversuche, eine Wehrmannschaft gegen eventuelle Angriffe der Bolschewiken aufzubauen. Und da hat er meinem Freund klipp und klar gesagt, dass er mich nicht in seiner Kanzlei antreffen will. Deswegen der heutige Termin, wenn er selbst nicht da ist. Solch ein Unsinn, mich mit einigen antisemitischen Raufbolden, die es überall in Deutschland gibt, gleichzusetzen. Mein Freund konnte ihm das nicht ausreden.«
Er schöpfte kurz Atem. Er fühlte sich erleichtert, dass ihm Beatrice gegenübersaß, ihm aufmerksam und ernstlich mitfühlend zuhörte, und dabei ihn in ihrer so jugendlichen Frische wie im Traum von seinen Sorgen zu entlasten schien. Er nahm den Faden wieder auf: »Was mich aber besonders bekümmert: selbst mein Freund macht sich ernsthafte Sorgen um mich, ob ich da auf dem richtigen Weg mit der richtigen Partei bin. Er sei persönlich schon mehrmals von einem gleichaltrigen Nachbarn in SA-Uniform rüde angerempelt und als Judenbengel beschimpft worden. Eine Anzeige, meint mein Freund, würde nichts nützen, da solche Tätlichkeiten noch harmlos seien im Vergleich zu Vorkommnissen, die aus der Jüdischen Gemeinde berichtet werden und nach Anzeige bei der Polizei ohne Straffolgen im Sande verliefen. Er fragte mich, wie ich meine religiöse Gesinnung mit dem Parteiprogramm der NSDAP vereinbaren kann. – Das ist genau der Vorwurf, den mir mein alter Herr jetzt ständig macht, wenn er überhaupt noch mit mir spricht. In letzter Zeit ist seine Mahnung sowieso nur noch am Telefon: man kann nicht zwei Herren dienen, Christus und Hitler.«
Er stutzte. Beatrice hatte die letzten Worte mit heftigem Nicken begleitet und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Sie denken, dass mein Vater mit seiner Ablehnung Recht hat?«
Beatrice zögerte nicht, ihm frei zu erklären, dass im Haus ihrer Tante über ihn in diesem Gedankenzusammenhang gesprochen wurde.
»Ich kann mir gut vorstellen, Ihr Engagement für die NSDAP und gleichzeitig – wie ich in den letzten Tagen verstanden habe – Ihr wohl in ganz Beuthen bekannter christlicher Glaube ist für viele ein Widerspruch. Ich will mir kein Urteil darüber erlauben, weil ich politisch nicht wirklich informiert bin. Ich plappere mehr alles nach, was meine Mutter in Berlin beobachtet und gehört hat und was meine Verwandten hier und auch in Königsberg politisch zum Ausdruck bringen. Sie sehen Hitler als den Oberrabauken an und fürchten seine Schläger als Unruhestifter. – Und wie ich aus Ihren Bemerkungen in Ihrer Praxis verstanden habe, meinen Sie es ja mit Ihrem Glauben wirklich ernst. Wenn Ihr Freund Sie viel besser kennt, verwirrt ihn das doch auch. Konnten Sie …«
Hier unterbrach er Beatrice: »Entschuldigen Sie. Ich kann es gleich vorwegnehmen. Nein, ich konnte ihn nicht beruhigen. Er kennt seit Jahren meine Bereitschaft, mich ganz für die deutsche Sache einzusetzen. Für das Vaterland zu kämpfen, es vor einem Niedergang retten zu wollen, das ist doch eine so heilige Pflicht, wie für Christus einzustehen. Können Sie das nachvollziehen?«
Beatrice hörte aus seinem beschwörenden Ton, wie wichtig es ihm war, dass sie ihm zustimmen würde. Tatsächlich fühlte sie sich aber unsicher. Diese Vorstellungen von Vaterlandseinsatz im Verein mit religiösem Glauben waren ihr bisher nie in dieser Weise in einem Zusammenhang mit den Geschehnissen der ihr von einigen Kommilitonen andeutungsweise berichteten Berliner Straßenkämpfen begegnet. Sie war beeindruckt von dem Feuer, mit dem er sprach. Und sie war überzeugt, dass er von Idealismus angetrieben diese Vorstellungen besaß. Ihre realistische Intuition hinderte sie aber, ihm mit der gleichen Begeisterung folgen zu können. Als hätte er ihre Gedanken erraten, fuhr er fort, seine Einstellung genauer in Worte zu fassen:
»Walter, so heißt ja mein Freund, wie ich Ihnen schon sagte, kennt mich als verantwortungsvollen und pflichtbewussten Menschen. Er kennt meine vaterländische Gesinnung. Meine Kraft für die Formung meiner SA-Männer setze ich ganz in diesem Sinne ein. Was an Schmutz passiert, und zwar in ganz Deutschland durch alle Gesellschaftsschichten hindurch, genau dagegen richtet sich mein Einsatz. Es muss wieder aufwärts gehen. Da dürfen solche Lausbübereien von Einzelnen nicht irre machen. So schlimm es für meinen Freund ist, auf der Straße von einem höchstwahrscheinlich neidischen, auf alle Fälle primitiven Nachbarn angerempelt zu werden, das ist doch kein Grund, eine ganze Bewegung zu verdammen und in Verruf zu bringen. Und vor allem mein verantwortungsvolles Festhalten an meinen Idealen zu bezweifeln. Was meinen Sie?«
Beatrice sah über den kleinen runden Tisch ihn wie eine ihr neue Person an, und sie bestätigte sich wieder erneut: ja, die Familie hat Recht. Er ist wirklich ein ungemein gut aussehender Mann mit seinem dunklen Teint, seinen hellen Augen, dem schwarzen Haar, der schlanken Figur. Er ist galant. Und er ist so wortgewandt, so lebenserfahren, dass ich nichts zu sagen weiß.
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