„Der ist noch nicht da“, sagte Aubrey arglos, woraufhin Tessa schnaubte.
Es war aber auch unangenehm, wenn ausgerechnet Mamas Liebling an solch einem Tag das familiäre Glückwunsch-Defilee verpasste.
„Alles Gute zum Geburtstag, Vater“, sagte Terence und überreichte Aubrey das Geschenk.
„Du siehst wieder hinreißend aus“, flüsterte Selwyn in Sues Ohr.
„Du brillanter Lügner“, flüsterte Sue zurück. „Aber trotzdem danke. Das sind die ersten netten Worte, die ich heute höre.“
„Die Schießerei“, nickte er verständnisvoll. „Unangenehme Sache für so ein junges Mädchen. Wie nimmt sie es auf?“
Wie nimmt sie es auf? Mehr Understatement ging wohl nicht.
„Sie spricht natürlich nicht darüber“, sagte Sue. „Aber natürlich ist sie traumatisiert.“
Selwyn runzelte die Stirn. „Traumatisiert? Also ich glaube nicht an diesen Unsinn. Wenn sie Pech hat, ist dies das Aufregendste, das je in ihrem Leben passieren wird. Damals in Shanghai, da kam das mehrmals täglich vor. Im Mandarin Club ...“ Seine Augen blitzten vor Freude.
„Ist gut Selwyn“, unterbrach ihn Sue. „Du warst ein stattlicher junger Mann.“
Selwyn nickte.
„Ein Abenteurer.“
Selwyn nickte wieder und lächelte.
„Amy hingegen ist ein behütetes Mädchen.“
Selwyn schüttelte den Kopf. „Das mag sein, aber brauchen wir nicht alle ein bisschen Aufregung?“
Tessas schneidend kühle Stimme drang zu ihnen vor. Beide sahen zu ihr hin, wie sie gerade ein paar Kellner im Garten hin und her scheuchte.
„Sogar Tessa regt sich gerne auf, wenn auch künstlich“, ergänzte er. „Ignoriere sie einfach. Ich praktiziere das, seitdem ich sie kenne und fahre wunderbar damit.“
Sue sah ihn skeptisch an.
„Vielleicht habe ich etwas, das dich aufmuntert“, sagte er verschwörerisch.
Sue ahnte Schlimmes. Selwyn hatte im Dienste der englischen Krone einen Großteil seines Lebens als hoher Diplomat in Südostasien verbracht. Besonders angetan hatten es ihm die erotischen Kulturgüter dieser Region, und er besaß die wohl beeindruckendste Sammlung von Lingams westlich des Ganges.
Sie hob die Augenbrauen, was Selwyn als Interesse deutete.
„Ich habe ein neues wunderbares Stück in meiner Sammlung.“ Seine Stimme wurde schwärmerisch. „Es ist oben, ich könnte es dir zeigen.“
„Das freut mich für dich“, sagte Sue schnell. „Aber ich glaube, ich muss jetzt nach Amy sehen.“
„Ich glaube nicht, dass du sie hier vor schießwütigen Monstern beschützen musst“, sagte er.
„Aber vielleicht vor etwas Schlimmerem“, antwortete Sue.
„Du hast recht“, sagte er. „Tessa kann in der entsprechenden Laune eine Körperverletzung sein.“
Sue sparte sich eine Antwort, um nicht doch in die Hölle zu kommen. Was stand eigentlich auf Schwiegermutter-Hassen? Sie nahm sich vom Tablett, das eine reizende Kellnerin ihr präsentierte, einen Orangensaft und machte sich auf die Suche nach ihrer Tochter.
Auf einem Tisch stapelten sich bereits die Geschenke, und alle Vasen waren mit verschwenderischen Blumensträußen gefüllt. Dabei wäre es Aubrey sicher lieber gewesen, sie hätten die Blumen in der Erde gelassen und ihm stattdessen neue Setzlinge für sein Arboretum geschenkt. Aubrey plauderte glücklich mit den Gästen und sah dabei immer wieder verstohlen auf die Uhr. Es war kurz vor halb eins, und für Punkt halb war seine Eröffnungsansprache geplant. Wahrscheinlich ist er ein bisschen nervös, dachte Sue.
„Na, wonach suchst du denn?“, fragte eine Stimme, auf die sie keinen Wert gelegt hatte. Sie gehörte Helen, Alistairs Frau mit dem Doppelnamen. „Ich nehme an, Amy. Ich würde sie keine Sekunde aus den Augen lassen.“
„Natürlich nicht“, antwortete Sue so ruhig wie möglich. „Ich kann mir auch schwer vorstellen, dass Zehn- und Elfjährige schon Geburtstage in Clubs feiern. Aber natürlich würdest du immer mitgehen. Was deine Kinder natürlich zu ziemlichen Außenseitern machen würde.“ Sie sah auf die Uhr. „Ihr seid spät dran. Ist was passiert? Aubrey war schon etwas nervös.“
„Alles bestens“, flötete Helen. „Was war euer Geschenk?“
„Von uns allen eine prächtige Paulownia tomentosa, ein Blauglockenbaum, der morgen per Spezialtransport angeliefert wird. Und von mir eine Torte.“
„Es ist entzückend, wie du bei Aubrey immer Hotel Sacher spielst. Hat Schwiegermama nicht bei Ladurée bestellt?“
„Kann sein“, erwiderte Sue gleichmütig.
Ein Klirren ertönte. Aubrey stand mit einem Löffel in der Hand und einem Glas Champagner in der anderen neben dem Geschenketisch und bat um Aufmerksamkeit. Er räusperte sich kurz, bevor er anfing zu sprechen. Tessa präsentierte sich an seiner Seite, ein vornehmes Lächeln auf den Lippen.
„Liebe Gäste. Ich freue mich sehr, dass Sie und ihr alle gekommen seid, um mit mir meinen 75. Geburtstag zu feiern. Ich begrüße meine Familie, den Herrn Bürgermeister, unseren Anwalt, den Pfarrer, du liebe Güte, wenn ich weiterrede, stehe ich noch in zwei Stunden da, und dabei hängt mir der Magen schon in den Kniekehlen, weil ich heute Morgen vor Aufregung keinen Bissen herunterbekommen habe. Darum mache ich es kurz – ich danke meiner Frau, der lieben Tessa, dass sie das alles so wundervoll vorbereitet hat, und wünsche uns allen einen schönen Tag und ein unvergessliches Fest. Und jetzt kommt das Wichtigste: Ich bitte alle zu Tisch!“
Alle klatschten und begaben sich zu den Tischen, die auf dem Rasen aufgestellt worden waren. Sue und ihre Familie saßen natürlich an Aubreys Tisch, und sie war froh, als sie Amy mit Philipp kommen sah. Vielleicht war an diesem Tag sogar ein kleiner Bruder eine psychische Stütze. Es sei denn, er löcherte sie dauernd mit Fragen zur Schießerei. Aber die beiden sahen ganz entspannt aus.
Auch Emma saß am Tisch. Sie hatte wieder einmal einen Freund mitgebracht, der an einem anderen Tisch platziert war. „Hallo Amy“, sagte sie. „Willkommen im Club.“ Emma war schon des Öfteren in derartige Vorfälle verwickelt gewesen.
„Emma, ich bitte dich“, fuhr Tessa ihr mit schneidender Stimme dazwischen.
„Aber gerne doch, Mutter.“ Emma lächelte und widmete sich mit großem Appetit ihrer Suppe.
Sue bewunderte Amy für ihre Contenance. Sie hatte die Haare nach vorne fallen lassen und aß ungestört hinter diesem Vorhang.
Nach dem Essen und einigen weiteren, mehr oder weniger blumigen Reden war der Geräuschpegel etwas nach unten gesackt. Alle waren von einer angenehmen Trägheit erfüllt, bis auf Aubrey – und natürlich Tessa, die bereits wieder das Personal herumkommandierte.
„Wie wäre es mit einem kleinen Verdauungsspaziergang?“, warf Aubrey in die Runde.
Die Begeisterung verhalten zu nennen wäre eine Übertreibung gewesen. Eigentlich mochte sich niemand melden, bis sich schließlich Terence erbarmte, und nach einem heftigen Stoß von Helens Ellbogen in Alistairs Rippe auch Letzterer. Helen, die größten Wert darauf legte, sich lieb Kind zu machen, kam natürlich auch mit, ebenso ihre beiden Sprösslinge. Etwas frische Luft würde vielleicht die Vampirblässe aus ihren Gesichtern vertreiben, dachte Sue.
Aubrey wanderte weiter zum nächsten Tisch und sammelte noch weitere Opfer ein, darunter den Pfarrer und den Bürgermeister.
Sue hingegen hatte heftige Kopfschmerzen. Das Geplapper der Gäste fühlte sich an wie Nadelstiche auf ihrer Kopfhaut, und sie beschloss, sich bis zum Kaffee kurz hinzulegen. Zum Glück konnte sie sich in Terences ehemaliges Zimmer zurückziehen. Als sie die Treppe hinaufgehen wollte, wurde sie von Tessa abgefangen.
„Amy ist viel zu jung, um zu solchen Veranstaltungen zu gehen. Ich hätte es ihr nicht erlaubt“, fing Tessa ohne große Vorrede an.
„Du solltest nicht von etwas sprechen, von dem du keine Ahnung hast“, sagte Sue. Die gepuderte Perfektion ihrer Schwiegermutter verursachte ihr Übelkeit.
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