„Dieser Meinung sind nicht alle“, meinte Sue und dachte an ihren ersten Arbeitsplatz in einem Londoner Hotel. Sie hatte einen schottischen Bowlingclub betreut, dessen Mitglieder ein Durchschnittsalter von 70 plus aufwiesen. Sobald auch nur ein Wort ihren Mund verlassen hatte, zückte einer dieser Idioten die Hand zum Hitlergruß. Sie hatten sich köstlich über die unsichere Zwanzigjährige amüsiert, die sich den Tränen nah nach dem ersten Tag einer anderen Gruppe hatte zuweisen lassen.
„Das verstehe ich nicht.“ Er rückte etwas näher. „Sagen Sie was.“
„Ich sage doch die ganze Zeit was.“
„Wunderbar.“ Er seufzte begeistert. „Ihr Englisch ist fantastisch, verstehen Sie mich nicht falsch. Aber diese leichte Färbung der Vokale und diese minimal härteren Konsonanten. Das klingt so“ – er sah in den Raum, während er mit entrücktem Blick nach Worten rang – „erdverbunden. Und autoritär.“
Erdverbunden? Autoritär? Welches Kindermädchen hatte ihn denn auf dem Gewissen? Womöglich stand er auch auf Dominas und erniedrigende Sexspiele. Es war höchste Zeit, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken.
„Meine Tante ist heute gestorben.“
„Oh.“ Der schwärmerische Schleier vor seinen Augen verschwand innerhalb von Sekunden.
Das nannte man einen gelungenen Themenwechsel.
„Das tut mir leid.“ Er starrte auf die Tischplatte und hatte offensichtlich keine Ahnung, was in dieser Situation an Worten angebracht wäre. Plötzlich schien er eine Eingebung zu haben und er sah Sue tief in die Augen. „Vielleicht sollten wir noch etwas trinken?“
„Gerne“, meinte Sue und winkte der Bedienung zu. Es war gut, mit der Trauerarbeit schnellstmöglich zu beginnen. Plötzlich fing Peter an, etwas zu murmeln, und Sue musste sich näher zu ihm beugen, um ihn verstehen zu können.
„ Die Nacht dehnte ihre teerschwarze Lache
aus. Unheil verkündend
schlitzt der Uhu den Pfad
mit der Schreckensseide seines Flügels.
Nie wieder werde ich dich rufen,
denn schon verrichtest du dein Tagwerk nicht mehr.
Meine nackte Sohle eilt weiter,
die deine hat Ruh.
Nacht – ein endloses Band
aus wisperndem Schwarz.
Schwer lastet auf meiner Seele
zu wissen: nie mehr, nie mehr.
Um mich herum Stimmen, doch ich bin allein.
Wo bist du, mein Stern,
der meine nackten Sohlen führt
auf den Weg in die Unendlichkeit.“
Sue starrte ihn an. Das Bild der nackten Sohlen tauchte als metergroßes Bild in ihrer Vorstellung auf. Sie waren schwimmen gewesen, obwohl der See eiskalt war. Mama hatte Schnitzel gemacht und Hilde einen ihrer wunderbaren Kuchen gebacken. Ein Picknick im Sommer. Grellblauer Himmel, Sonnenbrand, das Klicken von Papas Kamera. Er hatte Mamas nackte Füße fotografiert, die sie lachend vor seine Linse gehalten hatten. Sie hatte so lustige Füße gehabt, denn der zweite Zeh war deutlich länger als der große. Sue sah die Zehen vor sich, wie sie lustig hin und her wackelten und brach in Tränen aus. Das fiel ihr mittlerweile wirklich leicht.
Peter starrte sie erschrocken an, während die Tränen wie ein Sturzbach aus ihr heraus flossen. Natürlich weinte sie um Hilde, aber sie weinte auch um ihre Kindheit, die nun wieder ein Stück mehr geendet hatte (endgültig natürlich erst mit dem Tod des Vaters, aber daran wollte sie auch nicht einmal ansatzweise denken). Sie weinte um ihre Mutter, sie weinte, weil sie wütend auf Sondra war, und sie weinte, weil dieser wurmartige Fortsatz am männlichen Körper so eine Schlampe war, die sich mit dem billigsten Reiz, nur weil er neu war, zu verloren geglaubten Größen aufschwang. Irgendwann war der Sturzbach versiegt und alle verfügbaren Papiertaschentücher verbraucht.
„Entschuldigen Sie.“ Sue tupfte sich die Augen mit einer Serviette ab. „Ihr Gedicht war“ – jetzt rang sie nach Worten – „sehr ergreifend.“
Worauf Peter ihre Hand ergriff. „Das macht mich sehr glücklich.“
Weinende Zuhörer, die einen glücklich machten. Sue war froh, dass Terence Sachbücher schrieb. Sonst würde sie früher oder später in der Klapsmühle landen. Peter schien jedoch Feuer gefangen zu haben und fing erneut zu deklamieren an. Seine Worte erreichten kaum ihr Ohr, ein leises Brummen hatte sich darin breit gemacht, erfüllte ihren Gehörgang und setzte sich im Kopf weiter fort.
„... wohlige Wärme,
die aus der dunklen Nacht ...“
Du liebe Güte, würde er jetzt den ganzen Abend aus seinen deprimierenden Werken zitieren? Glücklicherweise meldete sich ihr Handy. Sue dankte den Segnungen der modernen Informationstechnologie und nahm das Gespräch an. Es war Amy, und am Ende des Gesprächs dankte sie niemandem mehr für irgendetwas.
„Mama?“ Amy klang verzweifelt.
„Was ist denn?“
Es folgte ein herzzerreißendes Schluchzen, das im mütterlichen Stoffwechselsystem umgehend dafür sorgte, dass der Alkohol- und Amphetamingehalt im Blut vollständig neutralisiert wurde. Sue war innerhalb einer Millisekunde hellwach. „Wo bist du denn?“, rief sie ihrer Tochter zu.
„Im Krankenhaus.“
„Warum?“
Auf diese völlig berechtigte Frage brach Amy wieder in Tränen aus.
„Was ist mit dir los?“, fragte Sue so sanft wie möglich.
„Ich kann nichts dafür, Mama, ehrlich.“
Das war wohl der am meisten missbrauchte Satz in jeder Art von Beziehung.
„Bitte hol mich ab.“
Gott sei Dank, sie schien nichts Schlimmeres zu haben, wenn sie gleich entlassen werden konnte.
„Wo bist du denn?“
„Im Mile End Hospital.“
„Okay Schätzchen, ich bin gleich da.“ Das Krankenhaus lag ja nur am anderen Ende der Stadt. Sue klappte das Handy zu und winkte der Bedienung.
„Probleme?“ Peters Aussprache klang leicht verwaschen.
Sue nickte. „Meine Tochter. Eine Geburtstagsparty scheint völlig aus dem Ruder gelaufen zu sein.“
„Hoffentlich nichts Schlimmes.“
Sue zuckte mit den Achseln. „Ich glaube nicht, aber ich muss trotzdem los.“
Am Taxistand hob Peter zu einer letzten Vorstellung an.
„Sommergewitter –
Ich ducke mich unter den Baum
Ohne dich.“
„Das gefällt mir!“, meinte Sue.
Peter lächelte unglücklich (das klang absurd, war aber tatsächlich so), während er ihr die Taxitür aufhielt. „Das ist das erste Mal, dass Sie das heute Abend sagen und auch meinen.“
Sue errötete. Unterschätze nie einen Oxford-Absolventen, schwor sie sich, selbst wenn er betrunken ist.
„Soll ich Ihnen was verraten? Das Gedicht ist nicht von mir.“ In diesem Moment sah er aus wie der personifizierte Kummer. „Meine Putzfrau hat es geschrieben, sie besucht einen Haiku-Kurs in der Volkshochschule.“
Sue hatte nicht die leiseste Ahnung, mit welchen Worten sie ihn trösten konnte und drückte ihm stattdessen kurz die Hand.
„Ich glaube, ich sollte mit dem Schreiben aufhören.“ Mit diesen Worten ließ er die Wagentür zufallen und warf ihr einen letzten traurigen Blick zu.
Sue drückte auf die rote Telefontaste ihres Handys. Gerade hatte sie eine Nachricht von Mrs Jackson erhalten, der Mutter einer Freundin von Amy. Offenbar war es im Funky Crow zu Handgreiflichkeiten gekommen und irgendjemand – Sue betete zu Gott, dass es niemand von Amys Freunden war – hatte eine Schusswaffe gezogen und im Club wild um sich gefeuert. Einer der Partygäste (Gerüchte gingen um, es handele sich um Simon Craig, Sohn des Kulturdezernenten) war von einer Kugel getroffen worden, aber anscheinend nicht in Lebensgefahr.
Sues Herz raste. Während sie kindische Rachepläne gegen Terence schmiedete, schwebte ihr Kind in Lebensgefahr! Eine Schussverletzung – das passierte doch nur anderen. Was war das nur für ein Tag – irgendwie schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Als der Taxifahrer vorschriftsmäßig an einer roten Ampel hielt, hätte sie ihn am liebsten angeschrien, durchzufahren. Jetzt dreh nicht durch, ermahnte sie sich selbst. Amy lebt, sie hat mit dir telefoniert. Vielleicht ist alles doch nicht so schlimm. Sie würde dieses Kind nie wieder aus den Augen lassen ...
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