„Sorry Terence, Eigenbedarf.“ Hocherhobenen Hauptes verließ sie das Zimmer.
Das „Sue!“, das Terence ihr nachrief, klang etwas jämmerlich.
Ihr Herzschlag stellte einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf, als sie in der kleinen Küche mit angewiderter Miene die Strumpfhose in den Mülleimer warf. Eigenbedarf? Nicht mehr. Sie würde sich einen anderen Strumpflieferanten suchen.
Sue heulte vor Wut, als sie auf die Straße lief. Wie fein das hier alles war, wie seriös Mayfair sich gab. Und hinter den geschleckten Fassaden nur die gleichen Lügen und Betrügereien wie überall. Es widerte sie an.
Wie konnte er ihr das nur antun? Hatte er keinen Respekt? Vor sich und vor ihr, seiner Frau? Selbst wenn sie ihm einige Punkte wegen der Nachwirkungen von Viagra gutschrieb, war er sich nicht zu schade gewesen, Sondra an sich ran zu lassen. Man kann immer Nein sagen. Wie oft sagte er das zu seinen Patienten? Oft, sehr oft. Bei ihm selbst war dieses Mantra offensichtlich wirkungslos. Er war einfach ein Schwein wie alle anderen Männer auch. Wie auf Kommando fing es in ihrer Scheidengegend wieder zu brennen an. Sue schimpfte leise vor sich hin. Einer Lady, die gerade zwei Möpse spazieren führte und sie missbilligend ansah, hätte sie am liebsten zugerufen: „Wissen Sie, was Ihr Mann gerade treibt?“.
Was soll ich denn nur tun, dachte sie. Ihn rauswerfen? Dazu verspürte sie im Augenblick die größte Lust, aber andererseits – sie hatten es ja noch nicht getan. Lüg dir nicht in die eigene Tasche , sprach sofort die Stimme der Vernunft, die sich vom gegenwärtigen Gefühlschaos nicht beeindrucken ließ. Wärst du nicht gekommen, hätten sie es getan. Sue schüttelte den Kopf. Ich muss zur Ruhe kommen, dachte sie. Tränenblind lief sie durch die Straßen, verzweifelt wie eine Figur von Charles Dickens. Was der wohl zur Viagra-Problematik geschrieben hätte, fragte sie sich bitter.
Wen kann ich anrufen, überlegte sie und ging im Kopf ihre Blackberry-Kontaktliste durch. Lulu? Die erholte sich wahrscheinlich noch von der letzten anstrengenden Nacht bei irgendeinem Konzert irgendeiner vielversprechenden Newcomer-Band. Tamara? Die lag gerade im Scheidungskrieg mit ihrem Mann und würde ihr sicher raten, gleich zum Anwalt zu gehen, was Sue im Moment für etwas verfrüht hielt. Helen? Mit der sprach sie immer nur über Banalitäten. Brian, der sich sicher alles anhören würde, ihr aber noch in zwei Jahren brühwarm jede Szene in Erinnerung rufen würde? Ellinor? Sue atmete pfeifend aus. Ellinor und Problem, einfach nicht kompatibel. Sophie? Da wäre sie an der richtigen Adresse. Sue musste automatisch grinsen. Sophie, die ihr seit Jahren in den Ohren lag, mehr Spaß zu haben. Spaß hieß für Sophie, Lover à la carte. Aber Sue war nicht Sophie, sie hatte noch nie etwas von Promiskuität gehalten. Es war vernichtend. Niemand kam in Frage. Wieder traten Tränen in ihre Augen. Was zum Teufel hatte sie die letzten Jahre getan, um keine Freundin zu haben, die sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen konnte? Jede noch so naive Romanfigur hatte doch eine, warum nicht sie?
Mittlerweile taten ihre Füße weh – kein Wunder bei den hohen Absätzen –, und Sue sah sich um, wo sie gelandet war. In der Farm Street, vor einer Kirche, der Church of the Immaculate Conception , wie sie der Tafel am Eingang entnahm. Wenn das kein Zeichen war. Es war ein eher unscheinbarer Bau, eingebettet in einer unauffälligen Wohngegend, was Sue nur recht war. Mit Luxus, Ruhm und Glamour hatte sie für heute abgeschlossen. Sie ging zum Haupteingang und öffnete vorsichtig die honigfarbene Holztür. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte – einen vom Ruß der Kerzen geschwärzten Innenraum, eine klaustrophobische Enge, eine Düsternis, bei der man kaum die Hand vor den Augen erkennen konnte? Du hast zu viel Dan Brown gelesen, schalt sie sich selbst. Staunend blieb sie stehen und ließ den hellen, luftigen Raum auf sich wirken. Nichts wirkte hier streng oder furchteinflößend, angefangen von der weißen, mit einem filigranen Gittermuster durchbrochenen Decke bis hin zu den zierlichen Spitzbögen, die zum Altarraum führten, der in hellem Gold strahlte. Sie ließ sich in einer der hinteren Bänke nieder. Waren Kirchen magische Orte? Diese hier war es ganz eindeutig, denn seit sie den ersten Fuß hierher gesetzt hatte, spürte sie, wie sich eine angenehm schwere Ruhe in ihr ausbreitete. Bunte Flecken tanzten auf ihren Händen. Sie drehte sich um und entdeckte eine Glasrosette, deren intensives Blau im gleißenden Licht der Julisonne fast übersinnlich wirkte. Sie hätte sich in diesen Anblick verlieren können, wenn nicht zwei alte Frauen, in eine lautstarke Unterhaltung vertieft, die Kirche betreten hätten. Ein Hund war auch noch dabei. Vielleicht hatte er was ausgefressen und musste zur Beichte? Sue hatte gehofft, die beiden würden zu reden aufhören, sobald sie in einer Bank Platz genommen hatten, aber nichts da. Sie plauderten munter flüsternd weiter, wobei die eine immer ein quatschendes Geräusch von sich gab, wenn sich ihr Gebiss im Mund gelockert hatte. Und das geschah ungefähr alle fünfzehn Sekunden. Sue war es schon immer schwergefallen, solche Geräusche auszublenden, und auch jetzt steigerte sie sich richtiggehend hinein. Das Schmatzen wurde immer lauter und quälender und die Frau immer unsympathischer und gemeiner. Einen kurzen Moment lang überlegte Sue, ob sie zum Gegenschlag ausholen und ein Gespräch mit dem Handy führen sollte. Am besten mit Lulu, die waren immer besonders lebhaft. Aber das war natürlich Kinderkram. Außerdem befand sie sich in einer Kirche und sollte den Nächsten lieben wie sich selbst – das ging aber sowieso nicht, weil sie sich momentan selbst nicht ausstehen konnte. Sie hatte eine Nacht voll unbefriedigendem Sex hinter sich, und das ohne Kinderwunsch – was zum Teufel tat sie dann in einer Kirche, sie scheinheiliges Luder? Sie hasste sich mit ihrem Komplex, weniger wert zu sein als die hochwohlgeborenen Menschen, mit denen sie Umgang pflegte. Sie liebte sich nicht. Wie sollte Terence sie dann lieben?
Das Flüstern schwoll an zu einem gleichmäßigen Klangteppich aus Zischlauten. Sue hatte genug, scheute sich aber, nach draußen in den hektischen Londoner Alltag zu gehen. Sie hatte noch eine halbe Stunde bis zum Meeting mit Peter im Verlag. Natürlich konnte sie dort eher eintreffen und sich in aller Ruhe auf der schönen Marmortoilette frisch machen. Aber dann kam sicher wieder eine magersüchtige, karrieregeile Blondine herein und gab mit ihrer bloßen Existenz Sues Minderwertigkeitskomplex neue Nahrung. Nein, hier in der Kirche der unbefleckten Empfängnis war es besser. Aber nicht in Gegenwart zweier Seniorinnen, die an Logorrhöe litten und mit ihren dritten Zähnen klapperten. Sie stand auf. Du lässt mir keine andere Wahl , entschuldigte sie sich bei Gott, als sie sich auf zum Beichtstuhl machte. Ich bin verwirrt und brauche Ruhe, dafür hast Du sicher Verständnis .
Sie war leise, und doch drehten sich die Köpfe der alten Damen, als sie die Tür zum Beichtstuhl öffnete. Ihr Gehör funktionierte offenbar noch einwandfrei.
Die Enge der Kabine tat ihr gut. Nun war wirklich alles ausgeblendet, was störte. Gut, der muffige Geruch irritierte etwas, aber man konnte nicht alles haben. Aus purer Gewohnheit – eine katholische Kindheit legte man nicht einfach ab – faltete sie ihre Hände und stützte den Kopf auf die Hände auf. Und plötzlich war sie da, die Trauer. Um Hilde natürlich, aber auch um ihre Ehe. Was war nur mit ihnen passiert? Sie waren doch so glücklich gewesen! War sie zu naiv gewesen in ihrem Glauben, es könnte ewig so weitergehen, dass die Popularität ihre Beziehung nicht verändern würde? Sie und Terence hatten stets an einem Strang gezogen, doch es war immer nur wie selbstverständlich um seine Karriere gegangen, und dieser Strang entpuppte sich jetzt als das Mittel, das die Person Sue Urquhart ins Jenseits befördert hatte. Sie war nichts, ein Anhängsel, das außer einer abgebrochenen Fotografenlehre und Hotelfachschule nichts vorzuweisen hatte. War sie überhaupt noch attraktiv für ihren Mann? Was hatte sie schon zu bieten außer dem, was er sowieso schon bestens kannte? Er hielt sie für so selbstverständlich wie sein täglich frisch gebügeltes Hemd. Schluchzend saß sie im Beichtstuhl und ließ ihren ganzen Schmerz in ihre Tränen fließen.
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