„Ich schaffe das nicht, Papa“, brachte sie mit Mühe heraus.
„Die Arbeit, ich weiß.“ Sein Verständnis brach ihr fast das Herz.
„Ich wollte nur Bescheid geben. Weil es die Hilde ist. Sie war doch immer für Dich da.““ Er klang unendlich traurig.
Sue hätte alles dafür gegeben, ihn in den Arm nehmen zu können. Und sich selbst auch von ihm halten zu lassen.
Die Tür ging auf und Kerry Mulligan schaute herein. „Ist alles in Ordnung?“
Sue sah auf, nickte, sprach ein „Papa, ich rufe dich später an, ja?“ in das Handy und beendete das Gespräch.
„Schlechte Nachrichten?“
Sue nickte. Als sie nicht weiter sprach, meinte Kerry: „Geh ruhig nach Hause, ich mache das schon.“
Sue schüttelte den Kopf. „Nein, ist schon gut. Ich muss jetzt was tun.“
„Wenn du meinst.“ Kerrys Blick blieb skeptisch.
„Ich meine.“ Das war auch immer Hildes Motto gewesen. Weitermachen. Auch wenn es nur so etwas Banales wie Würstchen grillen war.
Es half tatsächlich. Auch wenn ihr zwischen Senf, Ketchup und Currypulver immer wieder Hilde in den Sinn kam. Und ihre Mutter. Sie erinnerte sich an ein Foto, das die beiden als junge Mädchen lachend in Rom zeigte. Mit einer Jugendgruppe waren sie dorthin gereist und hatten sogar an einer Papstaudienz teilgenommen. Wie stolz waren die beiden immer gewesen, wenn sie davon erzählt hatten! Sue tat es jetzt noch leid, dass sie sich in ihrer pubertären Arroganz überhaupt nicht dafür interessiert hatte. Ihr Handy piepte.
Es war eine SMS von Peter Beardsley aus dem Verlag. Er wollte wissen, ob es bei dem Termin um 17 Uhr blieb. Sue seufzte. Es ging um Terences Lesereise. Das war ein wichtiges Treffen, denn man musste langfristig planen, um bei den großen Buchhandlungen berücksichtigt zu werden. Weitermachen. Das war Hildes Mantra. Natürlich blieb es bei dem Termin. Außerdem hatte sie ihrem Vater gesagt, sie hätte viel Arbeit und sie wollte nicht gelogen haben. Wie in Trance simste sie zurück. Sie musste Terence anrufen. Sie wählte seine Nummer, erreichte aber nur seine Mailbox. Sie verzichtete auf eine Nachricht. Der Chat nach der Sendung. Klar, der war wichtig. Dieser ganze Kram war so wahnsinnig wichtig. Resigniert starrte sie ihr Handy an.
„Eine Wurst mit viel Curry, bitte“, piepste es vor ihr. Ein süßer Rothaariger mit einem Sommersprossenteppich über der Nase und den Wangen sah sie treuherzig aus blaugrünen Augen an.
Eine drängende Sehnsucht nach ihrem Sohn erfüllte sie. Sie wollte seinen überhitzten Körper spüren, seine Lebendigkeit und Kraft. Sie gab sich besondere Mühe mit der Bestellung und machte sich dann auf die Suche nach Philipp. Er hatte sich mit Klassenkameraden in einer stillen Ecke des Gartens zusammengerottet. Als sie sahen, dass sie sich näherte, brach Hektik aus. Was sie wohl gerade verstecken, dachte Sue und bemühte sich, locker zu wirken.
„Gibt’s was?“, fragte Philipp. Er wirkte nervös.
Schon tat es Sue leid, dass sie gekommen war. Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihrem Sohn das Fest nicht verderben. Er würde noch früh genug von Hildes Tod erfahren.
„Ich wollte mich nur von dir verabschieden.“ Philipp würde heute bei seinem besten Freund Rick übernachten.
„Musst du schon gehen?“, fragte er ohne großes Interesse. Immer wieder glitt sein Blick zu seinen Freunden.
„Ja. Ich muss in den Verlag.“
Philipp nickte wissend. „Na dann, Mum, bis morgen. Holt mich aber nicht zu früh ab, wir wollen noch ein bisschen chillen.“ Und dann gab er ihr, große Überraschung, die Andeutung eines Kusses auf die Wange.
Am Würstchenstand war ihre Ablösung eingetroffen – Laura Neville-Turner, Tochter aus nordenglischem Hochadel, verheiratet mit einem Staatssekretär. Laura verbreitete eine unangemessene Hektik, und Sue freute sich auf die Ruhe des Taxis, das sie sich gleich rufen würde.
„Wie geht das, Sue?“ Laura klang atemlos und völlig gestresst.
„Hot Dogs?“ Machte die Frau Witze? Hot Dogs montierte man einfach zusammen, was gab es da zu erklären?
„Ja, ich habe das noch nie gemacht.“
Während Sue den britischen Hochadel in die Geheimnisse der Hot-Dog-Zubereitung einwies, hegte sie revolutionäre Gedanken. In Österreich war nach dem Ersten Weltkrieg der Adel abgeschafft worden, und sie konnte beim besten Willen nichts Schlechtes daran finden. Für Frauen wie Laura waren Küchen Räume, in denen nur die Bediensteten arbeiteten. Ihre eigene befand sich wahrscheinlich im Keller und wurde von schwitzenden, hohlwangigen Sklaven bevölkert. Laura selbst schien nie zu essen und passte locker in Size Zero. Sie betrachtete die vor Ketchup triefenden Hot Dogs mit derselben Verachtung wie einen hochinfektiösen Schimmelpilz.
Als Sue sich bückte, um ihre Tasche zu holen, blieb sie mit dem Bein am Fuß des Tisches hängen. Besser gesagt an einer Schraube, die herausstand. Das Schicksal ihrer Strumpfhose war besiegelt, denn eine Riesenlaufmasche wand sich fröhlich vom Knie bis zu den Knöcheln.
„Mist“, schimpfte Sue leise vor sich hin. „Auch das noch.“
„Die kannst du wegwerfen“, meinte Kerry, die sich ebenfalls zum Gehen fertigmachte. „Zieh sie doch einfach aus, es ist eh so heiß.“
„Das geht nicht“, stöhnte Sue, „ich habe noch einen Geschäftstermin in der City.“ Hektisch kramte sie in ihrer Tasche nach Ersatz. Vergeblich. Wie dumm, jetzt musste sie noch schnell eine neue besorgen.
„Ich kann dir eine leihen“, bot Kerry an.
„Das wäre wunderbar.“ So könnte sie sich den Weg zum Supermarkt sparen.
Nun kramte Kerry ebenfalls in ihrer Tasche und zog etwas heraus, das nichts Gutes verhieß.
„Die ist lila“, sagte Sue.
„Ich habe keine andere“, entschuldigte sich Kerry. Sie musterte Sue von Kopf bis Fuß. „Ich finde, die passt.“
Lila zu ihren beigefarbenen Schuhen und dem hellen Kleid? Im Juli? Das wäre sogar für eine Engländerin krass. Nein, sie brauchte jetzt etwas Luxuriöses. Etwas Vertrautes. Etwas Heimatliches. Ihre Wolford.
„Ich lasse es lieber. Dann fahre ich einfach schnell in der Praxis vorbei. Aber danke für deine Hilfe.“
Sie sah auf die Uhr. Terence war natürlich nicht gekommen.
Sue hatte Glück, dass ihr Taxifahrer keine Neigung zum Plaudern verspürte (entweder war er Autist, oder er konnte kein Englisch), und so ließ sie sich nach der trommelfellstrapazierenden Geräuschkulisse des Schulfestes dankbar in diese Oase des Schweigens fallen. Knarzendes, abgewetztes Kunstleder wurde als Ruhekissen definitiv unterschätzt, und über die verschwenderische Parfümierung des Wageninneren mit etwas, das an Kuhmist vermischt mit Patschouli erinnerte, sah sie großzügig hinweg.
„Fitzmass Liss“, wiederholte der Fahrer ihre Zielangabe mit hoher Stimme, die so gar nicht zu seiner recht athletisch wirkenden Statur passte. Außerdem schraubte er seine Stimme bei Liss in eine Höhe, die Raum für Fragezeichen ließ. Viele Fragezeichen. Der gute Mann hatte offensichtlich keine Ahnung, wohin er fahren sollte.
„Fitzmaurice Place“, wiederholte Sue langsam, als ob dies dem armen Mann helfen würde.
Er sah sie erwartungsvoll an.
„Hyde Park?“, testete sie ihn. Wenn er den nicht kannte, hatte er seine Taxilizenz wohl auf dem Mars erworben. Oder auf einem Flohmarkt billig gekauft.
Er nickte eifrig.
„Wunderbar. Sie nehmen die Piccadilly, rein in die Half Moon, über die Curzon in die Queen, dann in die Charles und wir sind da.“
Er nickte immer noch eifrig, und nachdem Sues Angaben von seinem Gehirn aufgenommen, bewertet und entsprechend eingeordnet worden waren, fingen seine Augen an zu leuchten. Er hatte verstanden! Das feierte er mit einem Kavalierstart, der Sue wieder in die Polster zurückdrückte. Schön, von dort würde sie sich so schnell auch nicht wieder lösen. Die Fahrt würde bei dem Verkehr mindestens eine halbe Stunde dauern.
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