Nachdem Sue gefühlte tausend Hot Dogs zubereitet und abkassiert hatte, gab ihr Sohn Philipp sich zum ersten Mal an diesem Nachmittag die Ehre. Natürlich um eine kostenlose Mahlzeit zu schnorren.
„Mama, kann ich ein Würstchen?“
Trotz teurer Schule litt auch er an der Kinderkrankheit, konsequent das Verb bei Fragen wegzulassen. Er war völlig verschwitzt und hatte sich das Polohemd in den Schulfarben dunkelbraun und grün ausgezogen. Ein leichter Schweißgeruch umgab ihn, auf den Philipp mehr als stolz war. Jeden Abend gab es Theater, wenn Sue ihn unter die Dusche steckte. Mit leiser Wehmut strich sie ihm über den Kopf. Jetzt wurde auch ihr Kleiner langsam groß. Seine dünnen Arme und die Schulterblätter, die wie Engelsflügel aus seinem Rücken ragten, waren jedoch noch hundert Prozent Kind. Verlegen wand er sich aus ihrer Nähe. Sue trat einen Schritt zurück. Mutter kurz vor Schmuseanfall, wie peinlich. Sie konzentrierte sich darauf, ihm ein Hot Dog mit besonders viel Ketchup zu machen. Philipp riss es ihr aus der Hand, und sie konnte ihm gerade noch zurufen, etwas zu trinken, als er bereits wieder in den Weiten des Schulgartens verschwunden war, eine rote Tropfspur hinter sich lassend.
„Mrs Urquhart“, riss eine Stimme, die nach quietschender Kreide auf einer Schultafel klang, Sue aus ihren Gedanken.
„Mr Shalby“, rief sie erfreuter, als sie tatsächlich war.
Mr Shalby war der Schuldirektor und daher wichtig. Obwohl er ein Idiot war, der den Zusammenbruch des englischen Weltreichs noch nicht verinnerlicht hatte und wahrscheinlich in seinem Schrank ein Poster von Königin Victoria hängen hatte. Außerdem schien sein Adamsapfel ein Eigenleben zu führen. Als Shalby weiter sprach, hüpfte er irritierend vital unter der dürren Haut auf und ab.
„Ihr Mann ist nicht zufällig hier?“
Irgendetwas in ihr seufzte auf. Verdammt noch mal, ich bin hier. ICH! Eine Frau von 41 Jahren, gesegnet mit zwei Kindern, einem übervollen Terminkalender und einem blockierten Leber-Galle-Meridian. Und Träumen! (Wobei ich momentan gar nicht weiß, wovon ich eigentlich träume.) Und merkt es euch alle: Ich bin nicht der nutzlose Wurmfortsatz von Terence Urquhart! Es würde so verdammt gut tun, all das in diese sogenannte gute Gesellschaft hinaus zu schreien, aber natürlich benahm sie sich.
„Er wäre so unglaublich gerne gekommen“, zwitscherte Sue, „aber er ist bei einer Live-Sendung im Fernsehen. Was soll man machen?“
Shalby zog anerkennend die Augenbrauen in die Höhe. „Erfolg kommt nicht von Nichtstun, nicht wahr?“ Er beugte sich näher zu Sue, woraufhin sie zurückwich. Sie legte wenig Wert darauf, die Anzahl der geplatzten Äderchen auf seinen Wangen zählen zu können.
„Vielleicht könnten Sie mein Anliegen an Ihren werten Gemahl weiterleiten.“
„Selbstverständlich.“ Jetzt war Sue aber gespannt.
„Wir haben in den unteren Klassen immer dieses leidige Thema …“ Er ließ den Satz mit besorgtem Vibrato ausklingen.
Leidiges Thema? Wovon redete dieser Mensch? Von brutalen Internetspielen? Mobbing? Politisch nicht korrekten, weil nicht von Jamie Oliver autorisierten Pausenbroten?
„Da Ihr Gemahl so eine Kapazität auf diesem gewissen Gebiet ist …“ Wieder schien seine Stimme hilflos in der Luft zu hängen.
Gemahl? Kapazität? Da kam nur ein Thema in Frage. Vielleicht sollte sie dem guten Mann auf die Sprünge helfen. „Meinen Sie Sexualtherapie?“
Nun hatte Sue alle Zuhörer auf ihrer Seite. Die Schlange, die geduldig vor ihrem Stand wartete, schwieg wie aufs Stichwort und lauschte gebannt, was nun folgen würde. Shalbys geplatzte Äderchen schienen eine Nuance zuzulegen.
„Äh, ja, im weitesten Sinne.“ Er räusperte sich. „Nein, es geht um den Aufklärungsunterricht, zu dem, wie Sie vielleicht wissen, wir als Bildungsinstitution verpflichtet sind. Vielleicht würde sich Ihr Gatte dazu bereit erklären? Es würde zum guten Ruf der Schule einen wesentlichen Beitrag leisten.“
Selbstverständlich, dachte Sue. Terence als Aufklärungslehrer und Paulina als Model im Schulprospekt. Und alles umsonst. Von diesem vertrockneten Männlein konnte man lernen, wie man sich durchs Leben schnorrte. „Das ist eine entzückende Idee“, sagte sie. War ihre Nase schon so lang wie die von Pinocchio?
„Finde ich klasse“, sagte Kerry Mulligan, eine andere Mutter, die Würstchen-Dienst hatte. Auch die Warteschlange gab ein kollektives Nicken von sich.
„Bei meinem Ältesten in der Blue Gates Fields Infant School haben sie das mit Rollenspielen gemacht“, gab eine Frau zum Besten. „Die Jungs spielten das Sperma und mussten durch einen Tunnel krabbeln, um zur Gebärmutter zu gelangen. Das war dann ein Igluzelt. Unser John war ganz begeistert.“
Sue setzte ein Lächeln auf. Terence würde ganz und gar nicht begeistert sein, den Aufklärer für zwölfjährige Spermiendarsteller zu spielen. Sein Interesse an Kindern erschöpfte sich in seinen eigenen zwei Exemplaren. Und auch da hielt es sich manchmal in Grenzen. Sie kannte also bereits die Antwort, setzte jedoch ein Lächeln auf und meinte in einem Tonfall, als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen: „Ich werde Ihre Anfrage weiterleiten.“
„Ich wäre Ihnen sehr verbunden“, sagte Shalby, der sichtlich erleichtert wirkte.
„Wer würde diesen Unterricht sonst machen?“, fragte Sue.
Shalby wand sich. „Ich fürchte, das bliebe dann an mir hängen.“
Das wird es auch, mein Lieber, dachte Sue. Denn Terence würde sich eher eine Kugel durch den Kopf jagen.
„Das können wir den Kindern nicht antun“, flüsterte Kerry, als Shalby sich ein paar Meter entfernt hatte.
„Ich wäre aber gerne dabei“, erwiderte Sue.
„Lieber nicht“, meinte Kerry. „Ich glaube, bei mir würde die Lust für immer flöten gehen.“
„Vielleicht schreckt das unsere Jungs ab, und sie warten noch ein bisschen, bis sie loslegen.“ Das meinte Sue wirklich ernst, denn Philipp und Sex? Diese beiden Dinge bekam sie beim besten Willen nicht zusammen.
Ihr Handy klingelte. Sie wischte sich die Hände an einer Serviette sauber und zog das Gerät aus ihrer Handtasche, die sie unter dem Tisch deponiert hatte.
„Susi?“
„Papa! So eine Überraschung! Du, es ist gerade ganz schlecht, ich bin nämlich gerade am Würstl grillen –“
„Ich mach es auch ganz kurz.“
Ein flaues Gefühl durchströmte sie. Das klang nicht gut.
„Die Hilde sie – sie ist tot.“
Das flaue Gefühl machte etwas anderem Platz, das Sue nicht einordnen konnte. Sie hätte sich auf den heißen Grill legen können und hätte trotzdem gefroren. Sogar ihre Gedanken zitterten und schafften es nur noch zu einer einzigen Erkenntnis: Hilde ist tot. Wie in Trance wandte Sue sich ab, schaffte es irgendwie, der erschreckt dreinschauenden Kerry Mulligan ein „Kannst du mal übernehmen?“ zuzuflüstern und taumelte in das Schulgebäude. In der Garderobe ließ sie sich auf die Bank fallen.
„Papa, bist du noch dran?“
Franz Wallner räusperte sich. „Ja.“
„Wie ist es passiert?“
„Ein Unfall. Sie wollte über die Straße und da ist ein Auto gekommen.“ Seine Stimme verhallte voller Unglauben.
Diese Scheißstraße um den See. Eng, kurvig, unübersichtlich.
„War sie gleich …?“ Sie traute sich nicht, weiter zu sprechen.
„Ja. Sie hat nicht leiden müssen. In drei Tagen ist die Beerdigung.“ Du kommst doch? schwang in seinem Tonfall mit.
Sue schüttelte den Kopf. Das ging nicht. Sie hatte eine Beerdigung hinter sich, ihre Mutter vor 26 Jahren. Noch immer fing sie zu zittern an, wenn sie daran dachte. Und jetzt Hilde. Ihre Patentante und die beste Freundin ihrer Mutter, die versucht hatte, ihr den Verlust ein wenig zu ersetzen. Die ihre Hand gehalten hatte, fest und weich zugleich, als sie am Grab standen und beide weinten.
Читать дальше