„Verdammter Mist!“ Terence knallte die Zeitung so wütend auf den Tisch, dass das Honigglas umfiel und sich ein träger goldgelber Fluss über den Sportteil der Daily Mail ergoss.
Nach einem spärlichen „Guten Morgen“ waren dies die ersten Worte, die bisher zwischen den Mitgliedern der Familie Urquhart gefallen waren. Terence war das personifizierte schlechte Gewissen und hatte sich hinter der Zeitung verschanzt, Amy saß schweigend vor ihrem Müsli und starrte in ihre Teetasse (Sue würde sich intensiv um ihr Mädchen kümmern müssen, das stand fest), und sie selbst fühlte sich müde, aber gestärkt von ihrer nächtlichen Backtherapie. Sie war schließlich die Einzige, die sich am vorigen Tag nichts zuschulden hatte kommen lassen (von der rachelüsternen Planung der Lesereise einmal abgesehen, aber das war eine lässliche Sünde, quasi vom alten Testament abgesegnet).
Sie war also die Ruhe selbst, als sie auf seinen Ausbruch mit einem sachlichen „Was ist?“ reagierte. Sie las grundsätzlich nie Zeitung zum Frühstück. Wenn sie Terence so ansah, wusste sie auch, warum. Einen Herzinfarkt konnte man sich auch auf angenehmere Weise heranzüchten.
„Was wird wohl sein?“, antwortete er barsch.
„Mir würden da auf jeden Fall zwei Dinge einfallen.“ Sue ließ ihre Andeutung im Raum stehen und genoss es zu sehen, wie Terence ein wenig rot wurde.
„Lies selbst.“ Er schob ihr die Zeitung hin, einen Tick versöhnlicher, wie ihr schien.
Amy, die inzwischen einen flüchtigen Blick auf die Schlagzeile geworfen hatte, sank immer tiefer in ihren Stuhl. Ihre langen, vom Duschen noch feuchten Haare fielen wie ein Vorhang über ihr Gesicht.
Schließlich traute sich auch Sue, sich den Ergüssen der britischen Boulevardpresse zu stellen. SCHIESSEREI IN NOBELCLUB: ELITE KIDS GANZ UNTEN. Sie konnte sich Terences Meinung nur anschließen: verdammter Mist. Auf Seite drei wurde ausführlich über die eskalierte Geburtstagsparty berichtet, bei der die Sprösslinge der Hälfte des britischen Kabinetts zu Gast gewesen waren. Auf einem Foto blickte ihnen eine derangierte Amy entgegen, natürlich mit einem Verweis auf den prominenten Vater.
Sue atmete tief durch. Warum hatte sie nicht irgendeinen braven Kerl von zuhause geheiratet? Mit Mittelschulabschluss, einer Lehre und einem lebenslang gesicherten Arbeitsplatz? Einen Mann, der höchstens im Lokalblatt zitiert wurde, weil er seit 35 Jahren Mitglied im Vogelzüchterverein war? Die Reaktion von Tessa konnte sie sich lebhaft vorstellen – das war eine Gelegenheit für ein Schwiegertochter-Bashing vom Feinsten. Terence, dessen Gesicht eine ungesunde Blässe angenommen hatte, misshandelte seinen Toast mit einem Messer. Wahrscheinlich dachte auch er an seine Mutter. Schlagzeilen in Blättern dieser Sorte waren nichts, worüber sie amused sein würde. Sie übte sicher schon vor dem Spiegel einen ihrer berüchtigten Blicke, für die Mafia-Bosse Millionen bieten würden. Sue war froh, dass Philipp bei seinem Freund übernachtet hatte und noch nichts von der Angelegenheit wusste.
„Ich konnte doch nichts dafür“, jammerte Amy. Sie hatte bisher keinen Bissen angerührt.
„Ich weiß, Schätzchen“, beruhigte Sue sie.
„Kann ich hier bleiben?“, bettelte Amy. „Ihr wisst doch, Oma ...“
Sue und Terence sahen sich an. Sie wussten.
„Da müssen wir durch, Kleine“, sagte Terence schließlich. „Je eher, desto besser. Dann haben wir es hinter uns.“
Amy seufzte unglücklich, dann stand sie abrupt auf. „Ich habe keinen Hunger. Ich gehe jetzt nach oben.“ Und weg war sie.
Sue war ihr dankbar, dass sie keine Szene gemacht hatte. Das Mädchen wusste, wann es höhere Instanzen gab, denen man nicht entrinnen konnte: dem Rektor ihrer Schule, ihrer Großmutter und Zeitschriften wie Glamour oder InStyle .
Terence war inzwischen zur Spüle gegangen und wusch sein Geschirr ab. Das hatte er gefühlt seit Jahren nicht mehr gemacht. Er war offenbar auf Wiedergutmachung aus. „Du hast gebacken.“
Sue nickte. „So gut ist sie mir noch nie gelungen.“
„Sue, ich –“ Seine Augen blickten ganz weich.
Nein, bloß keine gestammelten Entschuldigungen, dachte Sue. Ich muss mich zusammenreißen. Nicht in seine Augen sehen. „Ich fürchte, wir müssen los“, unterbrach sie ihn.
Sein knappes „Okay“ klang resigniert. Recht so, dachte Sue. Wieso fühlte sie sich dann so schlecht?
Urquhart Hall lag malerisch in der Sonne, aber Sue fühlte sich trotzdem, als wären sie auf dem Weg zum Schafott. Dabei war es lediglich die Clanmutter, der sie Reverenz erweisen mussten. Tessa hatte ihre Söhne und die nichtsnutzige Tochter (inklusive Schwiegertöchter) im eisernen Griff, während Aubrey, das Geburtstagskind, ein herzensguter Vater war, der keinem Kind etwas abschlagen konnte. Mit seiner Tochter Emma hielt er es immer noch so: Ohne seine monatlichen Schecks hätte sich die Gute in Ermangelung einer Ausbildung bei Tesco an die Kasse setzen müssen.
Philipp stocherte zielsicher immer weiter in den Wunden seiner Familie. „Da hat wirklich einer geschossen?“, fragte er jetzt zum mindestens fünften Mal.
„Ja, und jetzt halt endlich die Klappe, du Opfer, sonst ruf ich den Täter an und geb ihm den Auftrag, dich zu killen. Und er wird nicht vorbei schießen.“ Amy klang wütend.
„Aber es ist doch nichts passiert“, war sein Einwand. In seinem Alter zählten Konjunktive noch nicht. Ein paar Zentimeter daneben? Na und!
„Philipp“, sagte Sue und legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter, „wir sprechen nicht weiter darüber, okay?“
„Und wenn Oma mich fragt?“
„Dann haust du am besten ab.“
„Immerhin sind wir pünktlich“, sagte Terence.
Das bedeutete ein Minenfeld weniger, das sie durchqueren mussten.
Als Tessa ihrer ansichtig wurde, gefror ihre Miene zu einem eisigen Lächeln. „Terence!!!! Philipp, mein Süßer!!!! Amy! Sue.“
Ihre Begeisterungskurve sackte zum Ende der Namensnennung merklich ab, aber das hatte Sue auch nicht anders erwartet.
Aubrey hingegen freute sich aufrichtig, sie zu sehen. Der Jubilar drückte Amy fest an sich und umarmte Sue, nachdem sie ihm die Torte überreicht hatte.
„Du bist die Einzige, die nicht eine Standby-Leitung zu meinem Hausarzt hat“, sagte er und konnte sich nicht beherrschen, einen Finger in die Cremeverzierung zu stecken. „Ich hoffe, darin versteckt sich keine Rohkost.“
Tessa rollte entnervt mit den Augen. „Dass du in deinem Alter noch so unvernünftig bist“, rügte sie ihren Mann. „Und du“, sagte sie zu Sue, „solltest deinen Verstand einschalten. Du weißt ganz genau, dass das für ihn nicht gesund ist.“
„Gerade in seinem Alter sollte er tun und lassen können, was er will“, mischte sich Aubreys Bruder Selwyn ein. Der 78-Jährige war ein rotes Tuch für Tessa, fast noch schlimmer als Sue, denn er scherte sich um nichts – weder um Konventionen noch um seinen Ruf.
„Macht, was ihr wollt“, beendete Tessa die Diskussion. „Ich muss zusehen, dass ich Mr Rossi finde. Er hat mir ein unvergessliches Buffet versprochen, und jetzt fehlt immer noch die Hälfte. Dabei war doch alles genauestens besprochen. Ich hätte doch bei Buckley bleiben sollen.“
Bevor sich ihre Schwiegermutter abwandte, konnte Sue sich nicht verkneifen zu fragen: „Wo ist Alistair?“
Alistair war Terences älterer Bruder und Tessas einziges Kind, das nicht zum Sorgenkind mutiert war. Terence hatte den Fehler begangen, statt eines Mädchens mit einem albernen Doppelnamen sie zu heiraten, und Emma, seine jüngere Schwester, hatte eine tiefsitzende Allergie gegen alles Beständige, seien es Jobs oder Beziehungen. Sie war Mitte dreißig und flatterte als routiniertes und mittlerweile alterndes Society Girl durch die Gesellschaft Londons. Alistair hingegen war so trocken wie ein drei Tage altes englisches Weißbrot und arbeitete als Archivar im British Museum. Er war selbstverständlich mit einer Dame mit Doppelnamen verheiratet (Helen Trent-Basingstoke) und hatte mit ihr eine Nachkommenschaft hervorgebracht, die aussah wie vergessene Artefakte aus seinem Museum. Das war gemein, aber es stimmte. Es waren Kinder mit tiefliegenden, fast unheimlichen Augen und einem Teint, der anscheinend noch nie Tageslicht gesehen hatte.
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