“ Sch ö n. Ich hole dich dann mit dem Wagen ab. ”
Die Schwester kommt zurück. Sie stellt stumm und lächelnd die Blumen neben dem Bett auf einem Beistelltisch ab. Als Vase dient ein Gefäß, das ein wenig an einen pot de chambre erinnert. Oscar folgt ihr mit den Blicken, als sie das Zimmer wieder verlässt. Sie ist jung, sympathisch und dunkelhaarig. Irgendwann, denkt er, wird sie heiraten und Kinder haben… Rasch dreht er dann den Kopf zurück in Richtung seiner Frau.
“ Timo hat angerufen. ”
“ Was sagt er? ”
“ Es hat ihm gut gefallen bei uns. Er ist in Br ü ssel. Er sendet dir tausend K ü sse. ”
Sie reden noch ein paar Takte miteinander. Dann geht Oskar. Auf dem Gang kommt er an einem Zimmer vorbei, dessen Tür offen steht. An einem Tisch sitzt der Arzt, Dr. Billet, er blättert in einer Zeitschrift. Es ist ein Blatt für Freunde und Liebhaber der Eisenbahn. Das kann Oskar zwar zunächst nicht sehen, doch der Arzt winkt ihn heran, und da sieht er es.
“ Ihre Frau kann morgen bereits nach Hause. ”
“ Ja, sie hat es mir gesagt. ”
“ Es war nur ein kleines Malheur. Sie m ü ssen sich weiter keine Sorgen machen. ”
“ Ja, danke, Doktor. ”
“ Interessieren Sie sich f ü r Eisenbahnen? ”
“ Nein, weshalb? ”
“ Ich dachte, weil Sie gerade so aufmerksam auf das Magazin hier geschaut haben. ”
“ Ist es denn Ihr Hobby? ”
“ So kann man sagen, ja. ”
“ Ich habe einmal an der Konstruktion einer Eisenbahnbr ü cke mitgewirkt. ”
“ Sie sind Architekt? ”
“ Ja. ”
“ Ein sch ö ner Beruf. Man schafft Dinge, die bleiben, die einen gar ü berleben, nicht wahr? ”
“ Von Fall zu Fall. Und Sie? Sie sorgen bei unsereins f ü r das Überleben? ”
“ Gelegentlich, Monsieur. ”
Man versteht sich. Man lächelt sich an. Es fällt nicht so strahlend aus wie das Lächeln des Tages, der nun, nach Regeneinbrüchen, wieder hektoliterweise Sonnennektar ausschüttet, jedoch deutet es auf einige sonnige Abschnitte im menschlichen Sektor. Oskar tut, was manch einer tut, wenn man um eine weitere Äußerung verlegen sind, er starrt Löcher in die Luft. Dabei nimmt seine Miene ungewollt einen spröden Ausdruck an. Und manches Mal, wie eben jetzt, kann es innerlich zu einer retrospektiven Luftspiegelung kommen…
"Du hast zuweilen etwas Unnahbares im Ausdruck , O ss. Das kann andere leicht verprellen."
“ Willst du damit sagen, ich bin so? ”
“ Vielleicht ein Teil von dir. ”
“ Welcher Teil? ”
“ Ich verstehe die Frage nicht. ”
Oskar füllte ihrer beiden Gläser mit Cognac nach. Es ärgerte ihn ein bisschen, was Timo da gerade gesagt hatte. Verhielt es sich wirklich so, oder war es mehr eine Frage der Umstände? Für den einen bedeutet es, dass das eigene Selbst im universalen Klangkörper mitschwingen kann, für den anderen nicht. Deutet das zwingend auf einen Wesensunterschied?
Schau nicht so m ü rrisch drein, Junge! Diesen Satz bekam er häufig zu hören, als er jünger war. Er suchte Seelenverwandtschaften, und er fand sie nicht. Das färbte auf seine Stimmung ab und auf seine Fassade. Er galt lange als schwierig. Er nahm es an. Er kultivierte es streckenweise. Andrerseits konnte er Menschen wie Timo um die Leichtigkeit beneiden, mit der sie ihre Antennen in die Welt ausrichteten. Sie schienen immer auf Empfang. Und sie schienen immer etwas zu empfangen, was es auch war...
Oskar - zurück in der Gegenwart - legt die Zeitschrift auf dem Tisch ab. Ein Bild einer historischen Zugmaschine schmückt die Titelseite. Es gefällt ihm, das Lokomobil. Er macht sich sonst nicht viel aus Eisenbahnen, ist eher ein Autonarr.
“ Was ist das f ü r eine Lokomotive? ”
“ Sie heißt Martin Luther und stammt aus Halberstadt, sie wurde im 19. Jahrhundert nach Deutsch-S ü dwestafrika verschifft und sollte f ü r Transporte auf einer Strecke zwischen der K ü ste und der Stadt Windhuk dienen. Daraus wurde aber nichts, das W ü stenland deckte den Wasserbedarf des Dampfkessels nicht, und die Lok hatte zu wenige Waggons mit Brennmaterial. Sie machte nur eine einzige Fahrt, f ü r die sie fast drei Monate brauchte, vom Hafenort Walvis Bay zum Seebad Swakopmund. Danach r ü hrte sie sich nicht mehr vom Fleck. ”
“ Daher der Name? ”
“ In Anlehnung an den ber ü hmten Ausspruch Luthers, ja. ”
Oskar schaut auf die schmucklose Uhr an der Wand des Arztzimmers. Sie tickt geräuschlos. Er wollte früher einmal, in ganz jungen Jahren, zum Südpol reisen. Er hatte gelesen, dort sei das Ende der bekannten Welt. Er merkte später, sie kann auch vorher schon zu Ende sein.
Es ist bald Mittag. Er hat Hunger. Drei Tage verbleiben noch, bis Constanze und er hier abreisen werden. Ab wird es dann gehen, ab nach Hause. Er verlässt das Spital. Merkwürdig, wie vertraut ihm diese Gegend bereits geworden ist. Als hätte er sich nie anderswo aufgehalten. Nein, denkt er, so kann man es nicht sagen. Aber man sagt eben vieles so dahin. Billionenfach - Hellebarden der Flüchtigkeit.
*
Minus-Ereignisreihen, die sich sich zum Aufgalopp formierten.
Er überquerte die Pont Neuf , entfernte sich von dem Tatort. Das Opfer lag lang hingestreckt, sah jetzt, nach seinem Ableben, irgendwie wertlos aus. Er sah es nur kurz, die Stelle wurde von der herbeieilenden Polizei abgesperrt, die Leiche weggeschafft.
Mit der Sache hier hatte er nichts zu tun. Es war ein politisches Attentat. Der Anblick, so flüchtig er auch ausgefallen war, ließ Oscar an jenen anderen mit den zwei Männern denken, die er kürzlich in ähnlicher Stellung hatte daliegen sehen, im Gouffre Bleu. Tote auf Bestellung. Das einte die beiden Ereignisse. Keiner der Toten war Opfer unvorhersehbarer Umstände geworden.
Und Oscar ging noch etwas durch den Kopf, als er, aufblickend, einen Haufen schroffer Wolken über den Himmel klettern sah: Konnte nicht jeden Augenblick etwas weitaus Gewalttätigeres seinen Lauf nehmen? Vielleicht öffnete sich unversehens eine kilometerbreite Erdspalte oder der Mount Everest kippte auf die Seite, und alles Tun - Gespräche, Arbeit, Eifersüchteleien, Reisen, Putzzwänge - erschiene mit einem Schlage null und nichtig? Er war sicher nicht der erste, der diesen Gedanken hatte.
Dergleichen geschah indes nicht, es blieb bei diesem kleinen, mörderischen Zwischenfall, der, einem Bankeinbruch, einem Busunglück, dem Ausbruch einer Krankheit vergleichbar, nur mikroskopische Spuren hinterließ. Danach würde, das war zu erwarten, wieder die unbeugsame Kraft des Alltags walten.
Seine Vorahnungen hatten sich nicht bestätigt und waren doch Realität geworden, auf eine abgefälschte Weise, abgefälscht wie Querschläger. Er war fassungslos. Solch eine Anhäufung geballter Gewalt...
Er sah zur Seine hinüber. Der Fluß hatte etwas von einer geschwollenen Krampfader. Seine Ufer schienen dagegen mit einer Hornhaut überzogen. Oscar hätte gerne auf der Stelle kehrt gemacht, den Schauplatz gewechselt, wäre am liebsten planlos verreist, weit fort, nach Swambesi oder in die Innere Mongolei . Dabei hatte er jetzt streckenweise glanzvolle Tage und Nächte durchlebt, eine wahre Hoch-Zeit. Ja, die Umstände waren ausgesprochen nett zu ihm gewesen. Bis dann irgendwo ein Feuerlöscher explodierte. Von da an wurde es spukhaft. Und brandgefährlich.
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