“ Ich habe im Grunde nie recht verstehen können, wie ein Mensch sich anmaßen kann, einen anderen Menschen zu verurteilen.”
“ Du meinst, von Amts wegen?”
“ Vorderhand.”
“ Und mir will es nicht in den Kopf, wie ein Mensch glauben kann, dass ihm, indem er ein Grundstück auf unserem Planeten käuflich erwirbt, dieses Stück Erde von Stund an als sein persönliches Eigentum betrachten kann. Ist das nicht infam?”
“ Monogam infam.”
“ Horch! Hörst du? Die Vögel?”
“ Nein… Warte… Ja, doch.”
“ Eine alte Regel besagt, dass man während der Mahlzeit nicht trinken soll."
"Sondern?"
“ Danach.”
“ Aha.”
“ Wolltest du nicht einst die Welt verändern, Castor?”
“ Ja… Und?”
“ Die Welt hat dich verändert, nicht wahr.”
“ Das ist wohl richtig.”
“ Mein Vater äußerte - als er noch lebte - oft und gerne den Satz: Aus dir, mein Sohn, hätte etwas Groß es werden können. Leider besitzt du das Talent, deine Chancen gründlich zu verschlafen.”
“ Hm.”
“ Von mir heisst es übrigens auch, ich sei eine Steißgeburt gewesen…Wie war das bei dir?”
“ Keine Ahnung. Ich habe, glaube ich, an dem Tag gefehlt.”
Gedächtnis-Protokoll; eines Gesprächs mit Carl… Gesprächsfetzen. Etwas wirr. War es neulich? Gleichviel.
Sagte ich nicht vorhin, das Café, in dem ich verabredet war, läge gleich um die Ecke? Was aber, wie ich lernen musste, nicht zwingend zur Folge hat, dass man in Kürze an seinem Ziel ist, nicht, wenn sich unangemeldet eine Spalte vor einem auftut. Und das an einem Tag, der wie geschaffen schien für Gruppensex unter Stockrosen oder Ölsardinen.
Zunächst gab es da einen Schusswechsel. Auf offener Straße. Bleidunst. Lärm. Schreie, Chaos… Tödliches Spiel? Ein Attentat? Ein Überfall? Eine Maskerade? Jemand zerrte mich in einen nahen Hausflur. Eine fremde männliche Hand. Ein bärtiges Gesicht.
Was mir sofort ins Auge fiel: Der Mensch in dem sandsteinfarbenen Safari-Look, der mich unaufgefordert in den leichenblass beleuchteten Hauseingang manövriert hatte, humpelte auf dem rechten Bein. Ich zeigte darauf.
“ Sind Sie verletzt?”
“ Nein. Stammt von einem Unfall… Als ich elf war.”
“ Was geht hier vor?”
“ Keine Ahnung.”
“ Und wer sind Sie? ”
“ Ein Passant, wie Sie.”
Der Dialog stoppte an dieser Stelle, da zwei brandneue unbekannte Personen die örtliche Bühne betraten. Ein Mann. Eine Frau. Ein Paar, wie ich zunächst anzunehmen geneigt war.
“ Wir sollten besser verschwinden! Und zwar rasch! Sie werden jeden Moment hier sein.”
So sprach der männliche Neuankömmling. Sein Tonfall wirkte unentschieden und hastig. Und er machte, vermutlich angesichts widriger Umstände, keinen sehr entspannten Eindruck. Er schien mir jung, im Dämmerschein des Hausflurs, hatte jedoch kaum Haare auf dem Kopf (oft aber täuschte ich mich in den Menschen, nicht allein, was das Alter anbelangte). Er trug eine Hornbrille. Ich trat auf ihn zu, schaute ihn an, als hätte ich eine Frage. Ich hatte eine Frage.
“ Wer wird jeden Moment hier sein?”
“ Diese Meute. Diese Verbrecher und Mörder.”
“ Haben Sie denn die Schüsse nicht gehört?”
“ Doch, ja.”
Es war die Frau, eine zierliche, unruhige Person, die, nicht weniger angespannt als ihr bebrillter Begleiter, zuletzt gesprochen hatte. Meine Erwiderung fiel sparsam aus, denn jetzt öffnete sich abermals die Haustür, (besser gesagt, sie flog, als wäre sie von einem Kinnhaken getroffen, mit einem Stöhnlaut auf) und weitere Gestalten, männlich, wiederum zwei an der Zahl, drängten herein.
Einen Moment lang dachte ich, dass … doch nein, es handelte sich, wie sich erweisen sollte, nicht um die erwähnten zwielichtigen Subjekte, sondern um Personen, die auf der Flucht waren. Sie wirkten auf mich bidirektional und in Teilen (die Älteren im Publikum werden sich eventuell erinnern) wie Pat&Patachon. Bei dem Kleineren stand, was ich infolge meiner umher wandernden Blicke zufällig gewahr wurde, der Hosenstall offen. War der passende Quellcode dafür Schrecken, Platzangst (¿), Wirrnis, Chaos, Panik? Er sprach jedenfalls mit einem bebenden Unterton in der Stimme. Und das in meine Richtung.
“ Wir müssen einen Ort finden, wo man sich verstecken kan!”
“ Hier? Im Haus?”
“ Natürlich. Raus können wir nicht. Viel zu gefährlich.”
“ Wir sollten vieleicht die Treppe nach oben nehmen.”
“ Keine ganz so schlechte Idee.”
“ Und wir könnten an den Wohnungstüren klingeln.”
“ Hat niemand ein Handy?”
“ Ich habe eines.”
Seltsamerweise besaß, wie sich zeigte, nur ich den gefragten technischen Gegenstand. Während um mich herum ein Bienenschwarm an Stimmen nervös durcheinander summte, zog ich mein Smartphone heraus. In der Eile glitt es mir allerdings aus der Hand und fiel zu Boden. Die Unruhe der anderen hatte mich offenbar angesteckt. Ich bückte mich, sammelte das Teil wieder auf.
“ Soll ich… die Polizei rufen?”
“ Unbedingt. Und machen Sie um Gottes Willen rasch!”
“… Oh, tut mir leid. Das Gerät muss Schaden genommen haben. Es funktioniert nicht mehr.”
“ Du lieber Himmel.”
Wir - also jene zusammengewürfelte Schar, die unsere überschaubar kleine Truppe ausmachte - waren mittlerweile auf dem Weg in die oberen Stockwerke. Der Kleinere des männlichen “ Komiker-Duos ” teilte sich mit der Frau die selbst gewählte Aufgabe, beiderseits an den Wohnungstüren zu klingeln. Aber vergebens. Niemand öffnete.
“ Weiter, Leute, weiter!”
Der Mensch, der mich vorhin in dieses Gebäude geschubst hatte, war offenbar entschlossen, eine Art Führungsrolle in unserer Gruppe zu übernehmen. Es war dies nicht die erste Anweisung, die, begleitet von einer energischen Handbewegung, von seinen Lippen abhob. Sein dunkler, kräftiger Bariton mochte immerhin für eine solche gehobene Laufbahn geeignet sein.
“ Teufel, was war das?”
“ Das war die Haustür…”
“ Heh! Wer immer da oben ist, kommt jetzt mal schön langsam herunter! Und keine Tricks, verstanden! Wir verstehen nämlich absolut keinen Spaß!”
Wir blickten einander im halben Dutzend der Reihe nach an. Verunsichert. Verstimmt. Ratlos. Einige ängstlich. Es waren Leute im Haus. Neue Leute. Bedrohliche Leute. Die Männerstimme, die eben von unten zu hören gewesen war, ließ sich kaum denen zurechnen, die dazu angetan sind, einem das Herz zu erwärmen. Was würde als nächstes folgen?
Zunächst einmal folgte etwas, dass unverhofft einen Funken der Erleichterung, ja, fast schon einen Lichtstrahl der Zuversicht in das sich verdüsternde Ambiente unseres Sechser-Klubs einbrachte …Polizeisirenen. Vor dem Haus schien ein Einsatz-Kommando Position zu beziehen. So hörte es sich für meine Person, die sich der Lösung des Rätsels, was hier eigentlich vor sich ging, langsam ein Stück näher glaubte, jedenfalls an.
Unterstützt hatten mich dabei auch jene Kommentare aus der Runde, die sich der Frage widmeten, wer dort draußen mit welchen dunklen Absichten unterwegs war. Etwa, um eine Kapuze aus Unheil über unser aller Alltagswirklichkeit zu ziehen? Über eine Welt namentlich, der urplötzlich etwas seltsam Fremdes wie gleichermaßen Unheimliches anhaftete?
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