Jeder fand ein wenig und auf seine Weise Ruhe. Nur nicht Antilius. Er konnte während dieser Tage kaum schlafen. Am Morgen des dritten Tages, den sie in Arcanum verbrachten, trat er auf den Balkon seines Zimmers, das sich auf der obersten der ringförmigen Terrassen befand. Von dort aus hatte er einen fantastischen Blick auf die weiße Stadt im grünen Vulkantrichter. Der Herbst war nun da. Die Natur bereitete sich allmählich auf den Winter vor. Alles wurde ein wenig stiller und kälter. Das Laub der Bäume in den Parkanlagen hatte seine Farbe verändert. Die ersten Blätter fielen bereits herab und wirbelten umher. Und die Schatten wurden länger.
Der Anblick machte Antilius einfach nur traurig. Er konnte aus der ihn umgebenden Ruhe keine Kraft schöpfen, weil er wusste, dass die Ruhe trügerisch war. Es waren einfach zu viele Dinge, die ihm schwer auf dem Herzen lasteten. Und dabei war die Erkenntnis, dass sein Bildnis auf einem fast tausend Jahre alten Gemälde zu finden war, nicht einmal das Schlimmste.
Die Rückkehr des Dunkelträumers war nicht mehr zu verhindern. Das Avionium, das dieser dafür brauchte, war durch die Sprengung des Berges bei Gorgonia freigesetzt worden. Das Einzige, was dem Dunkelträumer noch fehlte, war der spirituelle Führer, der sogenannte Transzendente, der ihn zurück lotsen würde. Diesen zu finden, war vermutlich nur noch eine Frage der Zeit.
Was Antilius aber noch viel mehr Sorgen bereitete, war die Neuigkeit, die ihm der Vergessene in der versunkenen Stadt Eventum enthüllt hatte. Nämlich die Tatsache, dass Verlorenend zerfiel. Ilbétha hatte - soviel wusste Antilius durch den Vergessenen bereits - Verlorenend stabilisieren können, bevor sie sich versteckt und zur Ruhe begeben hatte. Aber anscheinend war das nicht ausreichend gewesen. Alle, die in Verlorenend lebten, würden sterben, wenn man den Zerfall nicht aufhalten würde. Auch Tahera, die Frau, die Antilius in Verlorenend getroffen hatte, würde sterben. An sie musste er in der letzten Zeit besonders oft denken. Je mehr er über sie nachdachte, und je mehr Zeit seit seinem Aufenthalt in Verlorenend verging, desto mehr fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er konnte es sich nicht erklären, aber seine Begegnung mit ihr konnte kein Zufall gewesen sein. Er spürte, dass es eine Vertrautheit zwischen ihnen gab, die ihm mit jedem Tag, der verging, offensichtlicher wurde.
Nur Ilbétha würde wissen, wie man den Zerfall von Verlorenend aufhalten konnte. Doch von ihr fehlte jede Spur. Sie auf konventionellem Wege zu suchen, wäre aussichtslos. Ihr Versteck auf Thalantia war so außergewöhnlich, dass niemand es von sich aus finden würde. Antilius hatte der Präfektin und den anderen von seiner Überzeugung, dass Ilbétha noch lebendig war, berichtet. Zunächst hatte er es für sich behalten, doch jetzt hielt er es für ratsam, keine Geheimnisse vor der Präfektin mehr zu haben. Sie hatte zwar trotz gegenteiliger Überlieferung schon geahnt, dass Ilbétha noch lebte. Aber nach dem Bericht von Antilius bekam die Bedrohung, die von ihrer Macht ausging, eine neue Qualität, die auch der Präfektin Angst machte.
Heute war der Tag, an dem über die Bedrohung durch den Dunkelträumer und das weitere Vorgehen beraten werden sollte. Neben Antilius und seinen Gefährten wurden Avest, der Hüter der letzten Relikte aus der Zeit der Könige, geladen, sowie drei weitere Vertraute der Präfektin.
Der Rat sollte an einem besonderen Ort zusammenkommen und zwar im höchsten Zimmer in der Spitze des schmalen Turms, der aus der Mitte der Stadt, vom tiefsten Punkt des Kraters aus, aufragte.
Gilbert in seinem Spiegel musste Antilius mehrfach auffordern, an dem Rat teilzunehmen, denn sein Meister driftete mit seinen Gedanken immer weiter weg. Außerdem wusste Antilius ohnehin, was er jetzt zu tun hatte. Weiteres Gerede erschien ihm wenig zweckmäßig.
Er blieb aber vernünftig und nahm an dem Treffen teil. Der Raum an der Spitze des Turms war kreisrund und hatte eine lückenlose Fensterfront, sodass man einen atemberaubenden Rundumblick auf die riesige Terrassen-Stadt hatte.
Nachdem die Präfektin die Anwesenden kurz begrüßt hatte, kam sie auch gleich zur Sache:
»Die Ereignisse der letzten Tage haben sich überschlagen und entziehen sich mehr und mehr unserer Kontrolle.« Die Frau mit den langen grauen Haaren seufzte. Sie wirkte müde. »Wir müssen uns wohl eingestehen, dass wir die Rückkehr des Dunkelträumers nicht mehr verhindern können. Besonders nach dem, was in Gorgonia geschehen ist.
Egal, was wir beschließen, zu unternehmen, wir müssen uns beeilen. Die Zeit rennt uns davon.
Als erste Maßnahme habe ich das Gebiet rund um Gorgonia von meinen Leuten bewachen lassen, soweit das überhaupt möglich ist. Auf diese Weise will ich verhindern, dass sich jemand an dem freigesetzten Avionium zu schaffen macht. Der Dunkelträumer wird es für seine Rückkehr brauchen.«
»Ich will nicht respektlos erscheinen«, wendete Pais Ismendahl ein, »aber wenn der Dunkelträumer an das Avionium heran will, dann wird er sich nicht von ein paar Wachen aufhalten lassen.«
»Vergesst nicht, Herr Ismendahl, dass der Dunkelträumer sich das Avionium nicht selbst holen wird, sondern jemand, der von Thalantia stammt. Jemand, der als Transzendenter in Erscheinung treten wird.«
»Und was sollen wir jetzt tun? Sollen wir jetzt einfach dasitzen und abwarten, was passiert? Schließlich wissen wir doch gar nichts über die Pläne des Feindes, oder irre ich mich?«, fragte Haif, dessen beigefarbenes Fell in der Morgensonne glänzte.
»Bis zum gestrigen Tage glaubte ich, dass wir zur Untätigkeit verdammt wären, Herr Haven«, antwortete die Präfektin. »Aber vielleicht haben wir ein wenig Glück.« Sie wies per Handbewegung einen Diener an, jemanden in den Raum zu bringen.
Alle Anwesenden schauten gespannt und misstrauisch den zerlumpten Mann an, der kurz darauf eintrat. Ihm wurde kein Stuhl zum Sitzen angeboten.
»Wer ist das?«, wollte Tirl wissen.
Es war der Waldläufer, der Calessia bei ihrem Gespräch mit dem Dunkelträumer beobachtet und danach die Flucht angetreten hatte.
Die Präfektin nickte dem Mann zu und bedeutete ihm, sich zu erklären.
»Mein Name ist Endras. Ich komme von Fahros.
Da ich weiß, dass Eile geboten ist, werde ich mich kurz fassen. Calessia, die Gefährtin des Todes, heuerte mich und ein paar andere Männer für eine Expedition in das weite Moor von Elend-Uhn an. Als wir nach einer beschwerlichen Reise am Ziel ankamen, erweckte Calessia etwas, das aus dem Moor emporstieg.«
»Erweckte?«, fragte Tirl argwöhnisch.
»Ja, wir auf Fahros nennen ihn den Kataklysten. Ein Moor-Golem, der laut unserer Legenden eines Tages dem Moor entsteigen und den Untergang Thalantias prophezeien würde.«
»Ich habe von diesen Erzählungen gehört. Aber es sind doch nur Legenden. Das ist einfach nur Fiktion. Endras, seid Ihr Euch sicher, dass Ihr Euch nicht geirrt habt? Dass das, was Ihr gesehen haben wollt, nicht doch etwas anderes war?«, hakte Tirl nach. Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, dass sich die Legenden versunkener Städte und in der Dunkelheit ruhender Wesen nach und nach als wahr herausstellten. Und das, obwohl er eine dieser lebendig gewordenen Legenden vor Kurzem erst selbst gesehen hatte, nämlich den Leviathan.
»Ich weiß, was ich gesehen habe«, antwortete Endras. »Es war der Kataklyst. Er überreichte Calessia einen Stein, mit dessen Hilfe sie jemanden anrief, den sie als Dunkelträumer bezeichnete.«
Antilius wurde ganz blass, und auch den anderen Anwesenden stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. »Sie hat mit dem Dunkelträumer gesprochen?«
»Ja. Aber ich weiß nicht, wer der Dunkelträumer sein soll.«
»Das tut hier nichts zur Sache. Fahrt fort!«, forderte die Präfektin Endras auf. Er sollte nicht noch mehr erfahren, als er ohnehin schon wusste.
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