Ich kann es nicht wiedergutmachen, aber mit diesem Stein, den ich dir anvertraue, wird es eines Tages möglich sein, dass der Verbannte eine zweite Chance bekommt. Ich habe es gesehen in einer Vision.
Geht jetzt! Geht, bevor sie Euch finden und auch auf Euch Jagd machen!«
Panton nahm den sprechenden Stein in die Hand und betrachte ihn nachdenklich.
»Ich habe zwar nicht verstanden, was Ihr mir erzählt habt. Aber wenn es Euch so viel bedeutet, werde ich den Stein aufbewahren, solange es notwendig ist. Doch sagt mir, wann soll der Stein seinem Zweck dienen?«
»Das Schicksal wird entscheiden, wann die Zeit für den sprechenden Stein gekommen ist. Ich weiß zwar nicht, was die Zukunft bringt, doch ich bin davon überzeugt, dass sie besser sein muss als heute. Und wenn diese Zeit gekommen ist, dann soll der Stein dazu dienen, dem Verbannten seine Rückkehr zu ermöglichen. Denn eine Entscheidung muss dann getroffen werden«, sprach der Rätselmacher. »Geht jetzt und beeilt Euch!«
Panton vertraute dem Rätselmacher und machte sich wieder auf den Weg in seine eigene sterbende Heimat. Ohne Hoffnung und mit der Gewissheit, dass er nur zurückkehrte, um sein Volk in den Tod zu begleiten.
Aber Panton kehrte nie wieder zurück. Der Weg, der ihn über Verlorenend zurück in seine Heimat führen sollte, war bereits versperrt, und die Thalantianer hatten damit begonnen, jeden Fremden aufzuspüren und zu verfolgen.
Panton floh vor dem auf Rache sinnenden Mob. Er hatte keine Ahnung, wo er Schutz finden konnte. Seine planlose Flucht führte ihn schließlich auf die Inselwelt Fahros im Nordwesten von Truchten, die auch als das Land der vielen Moore bezeichnet wurde. Immer tiefer drang er in die unwegsamen Moorebenen vor. Seine Verfolger trieben ihn immer weiter und ließen sich nicht abschütteln.
Die Strapazen der Flucht forderten irgendwann ihren Tribut, und so geschah es, dass Panton in einem der Moortümpel stecken blieb und sich nicht mehr ohne Hilfe befreien konnte.
Die mit der Verfolgung beauftragten Thalantianer berieten, was sie mit Panton tun sollten, als sie ihn gestellt hatten. Sollten sie ihn töten oder ihn im Moor seinem Schicksal überlassen?
»Lasst mich hier nicht zurück!«, flehte Panton sie an. »Ich habe niemandem von euch ein Leid zugefügt. Ich bin nur auf der Suche nach Hilfe für mein Volk gewesen.«
»Selbst wenn Ihr die Wahrheit sprecht«, entgegnete einer seiner Verfolger, »so spielt es jetzt keine Rolle mehr. Wir haben Befehl, jeden, der nicht einer von uns ist, zu eliminieren. Unsere Welt muss wieder von neuem aufgebaut werden. Ihr habt darin keinen Platz.«
Panton wäre bereit gewesen, beim Wiederaufbau zu helfen, auch um seinem Leben einen Sinn zu geben, nachdem es für ihn kein Zurückkommen zu seinem Volk mehr gab.
Die Thalantianer ließen sich aber nicht erweichen und entschieden, Panton dem Moor zu überlassen und dem, was sich in dem Moor befand. Sie drehten ihm den Rücken zu und verließen ihn.
»Ihr Narren!«, schrie Panton ihnen hinterher. »Eure Wut und euer Schmerz über die Vernichtung eurer Städte hat euch blind gemacht für diejenigen, die euch wohlgesonnen sind. Wenn ihr euch eurer Angst hingebt und alles vernichtet, das ihr nicht versteht und jeden tötet, den ihr nicht kennt, dann wird eure Welt eines Tages endgültig untergehen.«
Die Thalantianer antworteten nicht mehr, aber sie hatten sehr wohl Panton gehört. Wie durch einen Zauber hallten seine Worte in ihren Köpfen wider. Immer und immer wieder.
Sie erzählten von ihrer Begegnung mit Panton und gaben seine warnenden Worte weiter. So wurde im Lauf der Jahre, trotz des Verbots, über die vergangenen Ereignisse zu sprechen, Panton, das Wesen aus dem Moor, der Kataklyst genannt, der den Untergang von Thalantia prophezeit hatte.
So paradox es klingen mag, es wäre ein Akt der Gnade gewesen, hätten sich Pantons Verfolger dazu entschieden, ihm einen schnellen Tod zu bereiten. Stattdessen ließen sie ihn im Moor zurück, in dem er langsam aber sicher immer tiefer versank. In diesem Moor, so erzählte man sich, gab es etwas, das nur darauf wartete, Beute zu machen. Es lebte schon seit Jahrhunderten dort. Die Einheimischen nannten es 'Das Wispern' und mieden die immerfeuchten Moore von Fahros. Schon oft hatte man von Männern und Frauen gehört, die sich in den Weiten von Elend-Uhn verirrt hatten und nie wieder zurück fanden.
»Das Wispern hat sie sich geholt«, sagte man und überließ es der Fantasie, was damit gemeint war.
Panton musste am eigenen Leib erfahren, dass die Geschichten über das Wispern im Moor nicht erfunden waren.
Von der Welt allein gelassen, vernahm er zuerst ein unheilvolles Gemurmel aus dem Tümpel, der ihn gefangen hielt. Blasen stiegen auf und schließlich quoll ein grünliches Leuchten aus der Tiefe empor. Es wurde immer intensiver. Panton, der einst so stolze König, schrie vor Angst, aber niemand hörte ihn.
Kälte umfing ihn. Das Wispern zog ihn langsam und unbarmherzig zu sich hinab in das Moor.
Ja, ein schneller Tod wäre eine Gnade gewesen, verglichen mit dem, was Panton widerfuhr.
Über die Jahrhunderte hinweg wurde er, den man den Kataklyst nannte, vom Wispern umgewandelt in ein Wesen, das halb lebendig und halb tot war. Ein Ding, das aus den Ingredienzien des Moores bestand und nur noch entfernt einen eigenen Willen, oder gar eine Seele besaß.
Panton wurde als der Kataklyst wiedergeboren, von dem die Einheimischen stets munkelten und sich insgeheim fürchteten. Er wurde zu einer Art Golem, der nur darauf wartete, dass er eines Tages aus dem Moor gerufen werden würde, um den ahnungslosen Thalantianern zu beweisen, dass ihr endgültiger Untergang längst besiegelt war.
Und dass der Rätselmacher sich geirrt hatte, als er Panton im guten Glauben den sprechenden Stein überließ.
Während der Kataklyst vor Calessia kniete und ihr seine Treue schwor, gingen ihr viele Gedanken durch den Kopf. Bevor sie hier ankam, war sie ein wenig über sich selbst überrascht, dass die Nachricht, die sie kurz vor ihrer Abreise erhalten hatte, sie nicht schockierte. Die Nachricht über den Tod ihrer Schwester Xali.
Irgendwie hatte sie es schon geahnt. Und als sie über das Schicksal ihrer geliebten Schwester endlich Gewissheit hatte, empfand sie insgeheim Erleichterung. Denn sie wusste, dass Xali nicht mehr die gewesen war, die sie gekannt hatte.
Xali war zuletzt kein Mensch mehr gewesen, sondern hatte sich in ein Geschöpf verwandelt, das irgendwo zwischen Leben und Tod existierte, ganz ähnlich wie der Kataklyst. Banshee hatte man ihre Schwester genannt. Eine Vorbotin des Todes. Und in gewisser Weise hatte diese Beschreibung zugetroffen.
Ihre Schwester, die sich zuletzt stets als entflammt beschrieben hatte, hatte nach ihrer Verwandlung vom Menschen hin zur todbringenden Banshee die Fähigkeit entwickelt, durch die Projektion der Gedanken anderer auf sich selbst, ihre eigene Existenz zu erhalten. Und wenn ihr das zum Weiterleben nicht ausgereicht hatte, dann saugte sie ihrem Opfer das Herz aus. Wie sie das gemacht hatte, darüber wollte Calessia gar nicht erst nachdenken, denn es war erst einige Tage her, als Xali ihr selbst, ihrer eigenen Schwester, mit dem Tod gedroht hatte. Nein, sie hat ihr den Tod natürlich nicht wörtlich angedroht. Vielmehr war es ihr erschreckend eisiger Blick gewesen, der in Calessia die Erkenntnis reifen ließ, dass sich ihre geliebte Schwester in ein spukhaftes Monster verwandelt hatte, das tötete, um zu überleben - ganz gleich, wann und ganz gleich, wen.
Ja, in gewisser Weise war Calessia erleichtert, dass Xali nun endgültig gestorben war. Sie würde nun den Frieden finden, der ihr als Banshee verwehrt geblieben war. Xali würde niemandem mehr Leid zufügen können und würde auch selbst nicht mehr leiden müssen. Dies war für Calessia ein tröstender Gedanke, als sie sich per Segelschiff aufgemacht hatte, die Südküste von Fahros, der sechsten Inselwelt, zu erreichen.
Читать дальше