Sie schritt noch ein Stück weiter hinein in den eisigen See, tauchte ihre Hände ins Wasser und bewegte sie im Kreis, um Wellen zu erzeugen. Die Kälte spürte sie gar nicht mehr.
»Ich rufe dich, Gefangener des Sees! Ich rufe dich herbei. Erwache aus deinem langem Schlaf! Folge mir, und ich werde dir zu deiner Vergeltung verhelfen, die dir bis heute verwehrt geblieben ist!
Erwache!«
Nichts geschah.
Erleichtert stellten die beiden Männer im Hintergrund fest, dass sich nichts tat. In froher Hoffnung, Calessia nun zum Umkehren bewegen zu können, klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter, als sie plötzlich ein leises Blubbern vernahmen.
Calessia zog blitzartig mit einem leichten Schreck ihre Hände wieder aus dem Wasser und starrte gebannt zu den Bläschen, die sich ein paar Meter vor ihr auf der Wasseroberfläche gebildet hatten.
Weitere Blasen stiegen auf und ein gedämpftes Raunen ertönte. Es schien aus dem See zu kommen.
Die Männer bekamen es mit der Angst zu tun.
»Lasst uns von hier verschwinden, bevor es zu spät ist!«, flehte der Träger Calessia an.
»Schweig!«, schrie sie zurück, ohne sich vom See abzuwenden.
Mehr und mehr Blasen stiegen aus der finsteren Tiefe des Sees empor.
Und dann, nur ganz schwach, sah Calessia ein Leuchten unter Wasser. Es war dasselbe grüne Leuchten, dass Panton - das war der Name des Kataklysten vor seiner Verwandlung - einst in die Tiefe gezogen hatte. Aber dieses Mal kam es vom Kataklysten selbst.
Das Wasser begann regelrecht zu sprudeln. Das grüne Licht wurde immer heller. Ein unheilvolles Rumoren durchdrang das Moor.
Calessia ging langsam rückwärts, bis sie wieder aus dem Wasser heraus war.
Die beiden Männer hätten es besser wissen müssen: Sie hätten die Gelegenheit beim Schopfe packen und von diesem Ort fliehen sollen. Aber der seltsamen Faszination, die das Schauspiel in ihnen auslöste, konnten sie sich nicht entziehen. Sie wagten sich stattdessen bis an das Ufer heran, um zu sehen, was gleich aus dem fauligen Nass emporsteigen würde.
Langsam begann sich die Wasseroberfläche in der Mitte des Sees zu wölben. Eine schwarze, modrige Masse erhob sich aus einem leuchtenden Kranz von Blasen. Es war der Kopf des Kataklysten. Er war eins geworden mit dem Moor. Und deshalb bestand er auch überwiegend nur aus dem Morast, den ein Moor beinhaltet.
Das grüne Leuchten stammte von seinen Augen, die wie zwei Scheinwerfer aus der zunehmenden Dunkelheit zu Calessia und ihren Männern hinüber strahlten.
Mit jedem Zentimeter, den der Kataklyst aus dem Wasser stieg, wurde klar, dass er riesig war. Mindestens doppelt so groß wie ein ausgewachsener Mann.
Als er halb aus dem Wasser war, bewegte er sich ein Stück weit auf das mit Fackeln beleuchtete Ufer zu.
Auf halber Strecke machte er Halt und beugte sich tief in das Wasser hinein. Anscheinend wollte er etwas vom Grund aufheben. Als er es gefunden hatte, richtete sich das mächtige Wesen wieder auf.
Es war der Helm des Kataklysten, den er als stolzer König vor langer Zeit getragen hatte. Der Helm war einst wunderschön gewesen, gefertigt aus Gold und besetzt mit den edelsten Steinen, die man auf seiner Heimatwelt finden konnte. Er war das, was man hierzulande als Krone bezeichnet hätte.
Der Kataklyst hob den vor Schlamm triefenden Helm über seinen mächtigen Kopf und setzte sich ihn auf. Widerlich schmatzende und glucksende Geräusche entstanden dabei. Dann kam das morastige, nach Fäulnis stinkende Ding weiter auf das Ufer zu.
Calessia war so fasziniert und erregt von dem Geschehen, dass ihr Herz wild pochte, und sie zu schwitzen begann, obwohl es doch eiskalt war.
Das Moorwesen erreichte die Uferböschung. Ehe der Mann, der als Gepäckträger angeheuert hatte, begriff, dass das vermoderte Ungeheuer aus dem See etwas in seinen grün-leuchtenden Augen hatte, das ihn an den Tod erinnerte, packte der Kataklyst den armen Kerl blitzschnell am Hals und hob ihn hoch. Er schrie nur kurz, denn die unerbittliche Kraft seines Würgegriffs ließ jeglichen Schrei im Keim ersticken.
»Nein!«, brüllte der Waldläufer. »Calessia, tut doch etwas! Befehlt ihm, aufzuhören!«
Aber Calessia dachte gar nicht daran, dem einstigen König aus dem Moor etwas zu befehlen. Sie wusste, der Kataklyst musste sehr hungrig sein, nach all der langen Zeit. Also sollte er sich nehmen, was er brauchte.
Das stechende Licht aus seinen Augen paralysierte sein Opfer und machte es willenlos. Der Moorgolem öffnete seinen Mund, aus dem tiefschwarzer Matsch herausquoll. Dann begann er den armen Mann auszusaugen. Es war ein Strom aus grün-glühendem Plasma, das der Kataklyst aus seinem Opfer heraussaugte.
Calessia sah mit geweiteten Augen und einer Mischung aus Abscheu und Faszination zu, wie das Ding aus dem Moor ihrem Gepäckträger gierig das Leben aussaugte. Für einen Moment kamen ihr ernsthafte Zweifel, ob es wirklich klug gewesen war, den Moorgolem herbeizurufen. Aber es kam noch schlimmer: Nachdem auch das letztes Zucken des Mannes im eisernen Griff der morastigen Pranke erstorben war, begann er in sich zusammenzufallen. Er schrumpfte wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausließ. Der Kataklyst hinterließ von seinem Opfer nichts als eine leere Hülle. Am Ende warf er das, was er übrig gelassen hatte, von sich, woraufhin sich die Hülle des Mannes wie ein nasser Sack um einen verdorrten Ast eines Baumes wickelte, so als handele es sich um ein nasses Handtuch.
Der Waldläufer schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen und flüchtete. So wollte er nicht auch enden. Er rannte nicht weit und versteckte sich hinter einem großen Stein, von dem er aus sicherer Entfernung das Geschehen beobachten konnte.
Das Glühen in den Augen des Kataklysten senkte sich wieder ein wenig. Calessia war zweifelnd zurückgewichen. Das Wesen aus dem Moor näherte sich ihr und setze dabei langsam einen Fuß vor den anderen. Calessia erstarrte. Der Kataklyst blieb unmittelbar vor ihr stehen.
Der Waldläufer, hinter dem Stein kauernd, wollte am liebsten wegsehen. Aber er tat es nicht.
Dann senkte der Kataklyst seinen Kopf und ging bedächtig in die Knie.
»Ich bin Euer Diener, meine Herrin«, brummte das Geschöpf.
Calessia zitterte vor Anspannung und Erregung. Sie wäre beinahe in Ohnmacht gefallen.
»Es heißt...« Sie musste noch einmal tief Luft holen und sich zusammenreißen, um dem Kataklysten keine Schwäche zu zeigen. »Es heißt, du besitzt einen der sprechenden Steine. Gib ihn mir! Dann werde ich dich teilhaben lassen an meinem großen Plan.«
Der Kataklyst streckte die rechte Hand aus und hielt sie ihr mit der Innenseite nach oben hin.
Stirnrunzelnd betrachtete Calessia die leere Hand aus triefendem Morast. Dann quoll etwas aus der Handfläche heraus. Ein Klumpen, über und über mit Schlamm bedeckt. Sie nahm das Ding an sich, wusch es hastig im Wasser des Sees und öffnete staunend den Mund, als sie erkannte, was der Golem aus dem Moor ihr überlassen hatte.
Es war der sprechende Stein. Der Stein, mit dem sie den Dunkelträumer kontaktieren konnte.
Der Kataklyst war einst ein König, gefürchtet und zugleich geliebt von seinem Volk. Viele Jahrhunderte ist das nun her, bevor er eins wurde mit dem Moor, in dem er bis zum heutigen Tage unbehelligt geruht hatte.
Um zu verstehen, wer und vor allem was der Kataklyst ist, und warum er im Besitz des sprechenden Steins ist, müssen wir zurückgehen zu der Zeit vor tausend Jahren, als Ilbétha auf Thalantia gestrandet war.
Durch die Berichte der Vergessenen in der versunkenen Stadt Eventum wissen Antilius und seine Gefährten bereits, was sich im Wesentlichen zu der damaligen Zeit zugetragen hat.
Ilbétha, ein schöpferisches Wesen, das älter als das Universum selbst ist, hatte versucht, eine neue Welt zu erschaffen, parallel zu der bereits existierenden. Verlorenend haben die Thalantianer einst diese Parallelwelt genannt. Bei ihren Reisen durch den Äther dieses Universums und zu den zahllosen anderen Welten eignete sich Ilbétha die Fähigkeit an, Welten zu erschaffen, allein durch die Kraft ihrer Gedanken.
Читать дальше