1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 »Dann erklärt das auch, warum das Flüsternde Buch bis zum Schluss versucht hat, Antilius aus dem Weg zu räumen. Denn nur er weiß, wie man den Dunkelträumer aufhalten kann. Aber genau das hat Antilius vergessen. Sein Gedächtnisverlust kann also kein Zufall sein.«
Antilius seufzte einmal kurz und sagte: »Alles Spekulieren bringt uns jetzt nicht weiter. Es gibt nur einen Ort, an dem ich Antworten finden kann. Auf Panthea.«
»Warum dort?«, fragte Haif.
»Der Vergessene in der versunkenen Stadt sagte mir, dass es auf Panthea einen großen alten Friedhof geben solle, auf dem ein Wesen lebt, das er die Siobsistin nannte. Dieses Geschöpf soll über die Fähigkeit verfügen, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen, sodass ich mich wieder erinnern kann.«
»Ich kenne den Friedhof. Man nennt ihn den Friedhof der Hoffnungslosen. Die Einheimischen nennen ihn auch den Friedhof des Kayen«, murmelte die Präfektin nachdenklich. »Von einer Siobsistin habe ich aber noch nie etwas gehört. Was meint Ihr dazu, Tirl?«
»Ich war schon einmal auf diesem Friedhof. Und ich kenne die Legende, nach der sich dort ein Wesen aus den verlorenen Seelen der Toten heraus manifestiert haben soll. Ich habe aber bei meinem Aufenthalt dort nichts Ungewöhnliches gesehen.«
»Antilius, habt Ihr Vertrauen in die Worte des Vergessenen?«
»Ja. Er offenbarte mir dieses Geheimnis im Angesicht seines Todes. Ich muss nach Panthea.«
»Also gut«, sprach die Präfektin. »Tirl, ich möchte, dass Ihr Antilius begleitet.«
»Wenn Ihr das wünscht. Aber wären meine Kenntnisse nicht sinnvoller eingesetzt, wenn ich Pais Ismendahl nach Brigg begleite? Ich kenne die Gegend sehr gut und weiß, an welcher Stelle der Zugang in den Berg am einfachsten wäre.«
Die Präfektin war schon geneigt, sich anders zu entscheiden, als sie merkte, dass Tirl seinen Kopf zur Seite drehte und aufmerksam jemandem zuzuhören schien. Doch keiner der anderen sagte zu diesem Zeitpunkt etwas.
Es war Mila, die gerade zu Tirl sprach. Mila, seine Frau, die nur er sehen konnte. Die meisten hielten sie für ein Produkt seiner Fantasie, für eine imaginäre Person. Nur Antilius nicht. Er war sich sicher, dass hinter Mila mehr steckte als bloße Einbildung.
»Wenn du meinst, Mila«, sagte Tirl schließlich.
Die Präfektin bedeute ihm mit einem Blick, sich zu erklären.
»Mila sagte, es wäre notwendig, dass ich mit Antilius gehe. Also werde ich das auch tun.«
»Na, wenn Mila das sagt, muss es ja stimmen«, lästerte Pais gereizt.
Antilius warf ihm ein finsteren Blick zu. Er hatte ihm schon einmal gesagt, dass er Tirl so akzeptieren sollte, wie er war. Es war nicht so, dass Pais den Arboraner Tirl nicht leiden konnte. Was ihn störte, war, dass sich Tirl in seinen Augen kindisch benahm, wenn er weiterhin an der Illusion festhielt, dass seine Frau noch lebte, anstatt sich der Wahrheit zu stellen. Aber Antilius wusste es besser: Mila war real, auch wenn niemand außer Tirl sie sehen und hören konnte.
»Dann weiß jetzt jeder, was er zu tun hat«, fasste die Präfektin zusammen. »Antilius, ich werde Euch wieder Alte Schwinge zur Verfügung stellen. Sie hat sich von den Strapazen der letzten Tage erholt und wird Euch auf dem schnellsten Wege nach Panthea bringen.«
»Und womit sollen wir nach Brigg reisen? Mit einem Schiff dauert das ewig!«, intervenierte Haif.
»Eure Reise nach Brigg wird viel kürzer sein, als Ihr denkt. Ich habe eine Überraschung für Euch, Ihr werdet sehen.«
Haif kratzte sich am Fell auf seinem Bauch und rätselte, was die Präfektin als Reisegefährt für ihn und Pais parat hatte. Etwa noch einen Flugsaurier?
O, bitte nicht! Da wird mir schon schwindelig, wenn ich nur daran denke, dachte er.
»Und was werdet Ihr tun, Präfektin?«, fragte Pais.
»Ich habe eine besonders unangenehme Aufgabe zu erfüllen. Da wir die Ereignisse und die Gefahr, die uns allen auf Thalantia droht, nicht länger geheim halten können, werde ich Boten in alle Städte und Dörfer aller sieben Inselwelten aussenden lassen und die dortigen Regierenden hierher zu einem Treffen einladen. Ich werde reinen Tisch machen und ihnen alles erzählen, das wir jetzt wissen.«
»Was ist daran so unangenehm?«, wollte Haif wissen.
»Nun, ein solches Treffen aller Volksvertreter von Thalantia hat es seit dem Fall der fünf Königreiche nicht mehr gegeben. Ich weiß weder, ob ich Gehör noch ob ich Unterstützer für den Ernstfall finden werde.«
»Lasst uns alle das Beste hoffen. Noch ist nichts zu spät. Und wer weiß, vielleicht haben wir auch etwas Glück. Wir könnten jedenfalls ein wenig davon gut gebrauchen«, sprach Pais.
Damit war die Besprechung auch schon beendet. Wieder einmal mussten sich ihre Wege trennen. Jeder von ihnen hatte die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben. Aber die bisherigen Erlebnisse hatten sie gelehrt, dass jeder nächste Schritt gefährlicher sein würde als der vorherige. Und dass der Tod im wahrsten Sinne des Wortes hinter jeder Ecke lauern konnte. Das, was sie als Nächstes erwartete, machte keine Ausnahme von dieser Regel.
Es war genauso, wie die Präfektin gesagt hatte. Alte Schwinge hatte offenbar den Verlust ihres Artgenossen Später Vogel gut verkraftet und raste pfeilschnell am Himmel voran. Tirl und Antilius auf ihrem Rücken mussten sich gut festhalten, so rasant schossen sie durch die Luft. Der Spiegel von Gilbert war am Geschirr des Flugsauriers festgezurrt, damit Antilius ihn immer im Blick hatte. Sie waren noch rechtzeitig unmittelbar nach dem Treffen in Arcanum gestartet und würden am Abend die Küste im Südosten von Panthea erreichen.
Je weiter sie nach Norden vordrangen, desto kühler wurde es. Panthea war die nördlichste aller sieben Inselwelten. Obwohl der Herbst erst begonnen hatte, konnten dort die Temperaturen bereits deutlich unter den Gefrierpunkt sinken, vor allem nachts. Aber auch tagsüber war man gut beraten, warm gekleidet zu sein, wenn man das raue Klima Pantheas nicht gewohnt war.
Aus diesem Grunde hatten sich Antilius und der Arboraner Tirl, dessen Volk besonders kälteempfindlich war, allerlei warme Kleidung mitgenommen.
Es war schon einige Jahre her, dass Tirl die dritte Inselwelt Panthea erkundet hatte, aber er konnte sich noch gut an die Kälte erinnern, die ihn hatte frieren lassen. Seine Begeisterung, wieder hierher zurückkehren zu müssen, hielt sich daher in Grenzen. Er und Antilius hofften, die Hafenstadt Telandir noch vor Einbrechen der Dunkelheit zu erreichen. Aber angesichts der Entfernung und Alte Schwinges nachlassenden Kräften verzögerte sich ihre Ankunft bis spät in die Nacht.
Nicht nur einmal überkam Antilius während des Fluges durch die Dunkelheit das ungute Gefühl, dass der Flugsaurier gar nicht mehr wusste, in welcher Richtung er flog. Aber zum Glück war auf Alte Schwinge Verlass. Sie flog nur äußerst ungern im Dunkeln, dennoch hatte sie irgendwie die Flugrichtung im Kopf behalten. Als Tirl und Antilius das Licht des Leuchtturms in der Ferne aufleuchten sahen, atmeten sie erleichtert auf.
Die Stadt Telandir hatte es schon vor dem Großen Krieg vor über tausend Jahren gegeben. Sie hatte damals einen anderen Namen, an den sich heute - wenig überraschend angesichts des 'Vergessen-Plans' niemand erinnern konnte. Wie die meisten Städte zu dieser Zeit auch war Telandir damals bis auf die Grundmauern niedergebrannt, wurde aber nach Kriegsende rasch und mit viel Ehrgeiz wieder aufgebaut. Sämtliche Häuser waren aus Feldsteinen gebaut und verfügten überwiegend über reetgedeckte Dächer. Größtenteils Menschen lebten hier. Sie waren die einzige Spezies, die mit der Kälte im Winter einigermaßen gut umgehen konnte. Es waren gesellige Leute, welche aber die Zurückgezogenheit dieses Ortes zu schätzen wussten. Besucher verirrten sich nur selten hierher.
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