Vor dem Supermarkt stand ein Mädchen, das vermutlich in seinem Alter war. Sie hatte Dreadlocks, was er zwar einerseits cool fand, ihm aber andererseits suspekt war, da sie wohl ursprünglich schönes, braunes Haar hatte. Durch das Verfilzen der Haare war die Farbe stumpf geworden und ihre Haarpracht wirkte unfassbar spröde. Sie kam ihm vor, wie ein ausgetrockneter Baum, der morsch und knochentrocken war. Fast hätte er ihr den Ratschlag gegeben sich lieber in den Schatten zu stellen, da sie sonst wohl Feuer fangen könnte. Er tat es natürlich nicht, wie er vieles nicht tat, was ihm durch den Kopf ging.
>>Hey, ich komme vom Tierschutz. Hättest du eventuell Interesse an einer Mitgliedschaft bei uns?<< Sie hielt ihm ein Programmheft des Vereins vor die Nase, dem sie angehörte. Die üblichen Themen, Rettungsaktionen für an Autobahnraststätten angebundene Hunde in der Ferienzeit, Artikel darüber wie schlecht die Tiere in Osteuropa behandelt wurden und so weiter. Misses Rasta hatte reichlich Sommersprossen und ihre Haut war eher blass. Als er entdeckte, dass sie tatsächlich Birkenstock Schlappen trug, konnte er sich ein dämliches Grinsen nicht verkneifen. Sie sah auf seltsame Weise süß aus. Vielleicht war es ihr Idealismus, der ihr eine gewisse Aura der Unschuld verlieh, gleichwohl sie – nach gängigem Maßstab - eher schäbig wirkte. Aber wer war er, um darüber zu urteilen.
>>Ich muss nur schnell was zu essen besorgen. Dann kannst du mir erzählen, was ihr so macht. Hab den ganzen Tag Zeit.<<
Insgeheim hoffte er, dass sie damit beschäftigt sein würde anderen Mitbürgern ihren Text zu geben, so dass er sich klamm und heimlich davon schleichen konnte, wenn er wieder aus dem Laden kam. Sie hatte die Welt noch nicht aufgegeben. Er wusste nicht genau, ob er sie dafür bewundern, oder bemitleiden sollte.
Als er mit Schokoriegeln und einer Flasche Spezi wieder aus dem Laden latschte, stand sie natürlich alleine vor ihm und grinste ihn freundlich an.
>>Also, wollen wir?<<
Er überlegte, ob er ihr einen Schokoriegel anbieten sollte, doch, nein, das war sicher keine gute Idee. War ja kein Fairtrade Produkt.
>>Ich bin hier sowieso gerade fertig. Wenn du willst können wir in den Park gehen.<<
>>Wegen mir. Ich muss dich aber warnen. Ich bin alles andere als der friedliche, nette Trottel, für den du mich vermutlich hältst.<<
Da hakte sie sich bei ihm ein, wobei ihm beinahe seine Spezi heruntergefallen wäre.
>>Oh doch, der bist du, da bin ich mir sicher.<<
Sie hieß Anne Marit und ihre Mutter kam aus Norwegen. Jetzt lebte sie abwechselnd in Norwegen und bei Ihrem Vater, der Leiter einen Förderschule am Rande der Stadt war. Er konnte den Blick nicht von ihren Schlappen wenden, als sie ihm das erzählte. Tatsächlich erfüllte sie sämtliche Klischees. Nur eine Waldorf Schule hatte sie nie besucht. Sie hatte Kommunikationswissenschaften studiert, in Norwegen, und ironischerweise gefiel es ihr In Deutschland besser, als in Norwegen. Nach dem Studium hatte sie zunächst bei einer Werbeagentur gearbeitet, bis diese mehr und mehr Werbung für Firmen gemacht hatte, deren Politik sie ablehnte. Er fragte sich, welche Firmen auf dieser Welt sie wohl nicht wegen ihrer Politik hasste. Es konnten zumindest keine großen sein.
>>Und du? Hast du studiert?<<
>>Ja, aber das ist schon länger her. Außerdem habe ich das Ganze nicht sehr ernst genommen.<<
Ihr Interesse an ihm befremdete ihn im Grunde, doch nach den vergangenen Tagen versetzte ihn nichts mehr in Erstaunen. Eigentlich war sie ja auch nur eine Streunerin, die gelernt hatte, woran man jemanden erkennt, der nichts besseres zu tun hat, als sich ihre Lebensgeschichte anzuhören.
Um sich weitere Nachfragen zu ersparen, denn er war absolut nicht in der Stimmung ihr von sich zu erzählen, lenkte er das Gespräch wieder auf den Tierverein.
>>Was ist denn jetzt mit eurem Verein. Was muss ich tun um Premium Mitglied zu werden?<<
Sie lachte und erzählte ihm von dem Aufbau der Organisation und ähnlichem. Er hörte zu, nickte ab und an und erklärte ihr, als sie die unterschiedlichen Mitgliedsbeiträge und deren Verwendung erläuterte, dass er zur Zeit ohne Job sei und es ihm von daher schwer fallen würde regelmäßig Zahlungen zu leisten. Sie ließ sich dadurch nicht beirren. Da sie derzeit auch nur für den Verein arbeitete und es ihm nicht ersichtlich war, wie sie davon leben konnte, saß sie gewissermaßen im selben Boot. Mit dem Tarif für Schüler und Studenten, für fünf Euro monatlich, kam er günstig davon. Wie immer in solchen Situationen unterschrieb er mit falschem Nachnamen und gab eine Bankverbindung an, die nicht existierte. So wie er es verstanden hatte, war der Verein groß genug, so dass sie davon niemals etwas erfahren würde. Er konnte also der nette Typ aus dem Park bleiben. Wenigstens etwas.
Sie redeten noch ein wenig über Musik und Norwegen, wo er nie gewesen war, was ihn jedoch in der Tat interessierte. Als der Abend hereinbrach musste sie los. Sie hätten noch etwas trinken gehen können, aber er wusste nicht, ob sie überhaupt Alkohol trank. So verabschiedete sie sich von ihm und wünschte ihm alles Gute. Und wieder war ein Mensch in sein Leben getreten, hatte Eindrücke hinterlassen und war anschließend wieder spurlos verschwunden, hinter den Mauern der eigenen Welt. Die Begegnung mit ihr erinnerte ihn an sein Studium. Auch hier hatten Menschen Eingang in seine Welt gefunden, mehr noch als es ihm manches mal recht war, da er sich verliebt und zu einem LSD Trip hatte überreden lassen, was ihm eine der entsetzlichsten Erfahrungen seines Lebens beschert hatte. Und auch hier waren die Menschen, nachdem die gemeinsame Zeit abgelaufen war, wieder jeweils in ihrer Welt verschwunden. Nach und nach hatte man sich komplett aus den Augen verloren. Nun, da er sich und sein Leben dem Misserfolg untergeordnet hatte, verspürte er auch nicht mehr das Bedürfnis all die Leute wieder zu sehen und Antworten auf jene 'und, was machst du jetzt so' Fragen, die er schon immer gehasst hatte, geben zu müssen. Was blieb waren die Erinnerungen, die langsam verblassten. Er stand im Park und spürte wie die Dämmerung hereinzog. Die Luft veränderte sich. Er begann zu frieren. Schokoriegel waren zwar lecker, doch deckten sie leider in keinster Weise den täglichen Bedarf an Nährstoffen. Er hatte Hunger und es war Freitag Abend. Von seiner Wohnung war er weit entfernt. Gegen die Kälte, für die er eine leichte Beute war, da er nicht genug gegessen hatte und sich entsprechend schwach fühlte, half nur Bewegung. Musste er eben nach Hause laufen. Er kannte sich in der Gegend nicht besonders gut aus, doch im Prinzip wusste er welche Richtung er nehmen musste. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wollte er nicht fahren, es widerte ihn an, wenn er an all die fröhlichen, angetrunkenen Teenies dachte, die auf dem Weg in die Stadt, zu irgendeiner Party, oder ihrer Entjungferung waren.
Das hatte gesessen. In der Windschutzscheibe war ein Riss, der sich den Ästen eines Baumes gleich ausgebreitet hatte und in immer feinere kleine Risse geführt hatte. Norbert Meiser war geschockt, jedoch weit weniger, als er erwartet hatte. Er hatte gute Reflexe, Squash ist ein schneller Sport, dachte er sich. Die Nervenbahnen seines Rückenmarkes hatten weitaus schneller den Impuls aus dem Gehirn verarbeitet, als dass sein Verstand erfassen konnte, was geschehen war. Irgendwie hatte er wohl noch halbwegs rechtzeitig gebremst, so dass er durch das, was er da gerammt hatte nicht schlicht hindurch gefahren war. In seinen Händen begann es zu kribbeln und seine Beine fühlten sich seltsam fremdgesteuert an, wie nachdem man sich an einen Marathon anschließend hinsetzt und das Gefühl hat, als würden die Beine nach wie vor laufen. Er stieg aus. Abgesehen von der kaputten Windschutzscheibe schien der Wagen keinen größeren Schaden genommen zu haben. Der Motor lief noch und die Scheinwerfer strahlten auf die unbeleuchtete Straße. Es musste halb neun Abends sein, oder etwas später. Neben der Straße gab es einen schmalen Grünstreifen, der die Straße von einem Radweg trennte. Alle paar Meter, es mussten wohl etwa 25 sein, waren mittelgroße Büsche gepflanzt. Die Straße war gesäumt von vereinzelten Wohnhäusern, die Gegend war alles in allem kaum erschlossen. Die Häuser waren allesamt aus den 1950er Jahren. In der Dunkelheit wirkten sie auf Herrn Meiser gespenstisch. Er konnte nirgends Lichter brennen sehen. Die Scheinwerfer seines eigenen Autos blendeten ihn. Seine Hände fassten in die Taschen seines Mantels. Da er zu zittern begonnen hatte gelang es ihm erst nach einer Weile die Tastensperre zu lösen und die Nummer der Polizei zu wählen. Bei Wildunfällen würde es schwer werden die Versicherung zum zahlen zu bewegen, lag nicht mindestens ein Polizeibericht vor. Der erste Adrenalinschub war vorüber. Er gewann die Fähigkeit zurück objektiv die Situation beurteilen zu können. Ein Grund dafür war, dass der Schrecken dem Ärger darüber, dass am anderen Ende niemand abnahm, gewichen war. Freitag Abend hatte die Polizei viel zu tun, das konnte er sich denken. Er musste sich wohl oder übel darauf einstellen, lange auf seinen Polizeibericht warten zu müssen. Nun war er wieder vollends Herr über sich und seine Sinne. Er musste etwas großes gewesen sein. Ein Rehkitz vielleicht. Etwa 200 Meter weiter mündete die Straße in ein Waldstück. Oder es war ein schwachsinniger Hund, der einem der gespenstischen Rentnern gehörte, die hier wohnten. Er legte auf. Bei genauerem Hinsehen ließen sich deutliche Kratzer auf der Motorhaube erkennen. Er ging um das Auto, öffnete die Fahrertür und schaltete den Warnblinker ein. Als er gerade den Motor abstellen wollte folgte ein zweiter, wesentlich heftigerer Adrenalinschub. In einigen Metern Entfernung konnte er hinter einem der Büsche ein paar Beine hervorragen sehen.
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