Jetzt beobachtete Winfried Urban einen Schmetterling, dessen dunkle Flügel mit kleinen farbigen Kreisen geschmückt waren. Der Schmetterling steckte seinen Rüssel in eine gelbe Blüte und schien daraus zu trinken.
Herr Urban trat einen Schritt zurück, streckte seine rechte Hand aus und berührte zaghaft einen Flügel des schönen, zarten Geschöpfs.
„Pass auf, du kleiner Schmetterling, wo du hinfliegst und sei nicht so tollpatschig“, sagte er und kicherte leise. Der Admiral bewegte seine Flügel zwei-, dreimal und flog auf. Kurz darauf landete er auf der Schulter von Herrn Urban und blieb sitzen. Herr Urban war verdattert. Nun war er nicht nur Übersetzer, sondern auch Dompteur. Schmetterlingsdompteur.
Ganz fröhlich geworden, ging er weiter in den Wald. Mit Pantoffeln an den Füßen und einem Schmetterling auf der Schulter. Während Herr Urban immer tiefer in den Wald hineinlief und erst am nächsten Tag von einer Polizeistreife in der Nähe des kleinen Örtchens Ostritz aufgegriffen werden sollte, zum Glück wohlbehalten, klopften dieselben Polizisten an die Tür des Heimleiters.
Die beiden Beamten hatten ein paar Fragen zu einem Mitarbeiter der Behinderteneinrichtung. Harmlos, wie sie beteuerten. Nichts von Belang. Außerdem kannte man sich ja. Reine Routine. Herr Jungmann bot Kaffee an, beantwortete alle Fragen und schließlich plauderten sie über gemeinsame Bekannte.
Und dennoch sollte dieser Besuch Benjamin Krauses unfreiwillige Reise in die mongolische Steppe um einiges beschleunigen.
Daniel Winterstein saß am Schreibtisch seines kleinen Zimmers im Verlagshaus der Berliner Zeitung und sah seine E-Mails durch. Zwei Drittel davon waren ärgerlicher Spam, die Penisverlängerungen empfahlen, megageile Teenies versprachen, Viagra fast geschenkt, Flaggen aller Nationen anpriesen oder Millionen von irgendeinem angeblichen Geschäftspartner aus Afrika. Diese Spamflut beanspruchte Zeit. Sinnlose Zeit. Jeden Tag verbrachte Winterstein wenigstens eine halbe Stunde einzig damit, doppelten oder dreifachen Unsinn aus seinem elektronischen Postfach zu entfernen.
Der neue externe Provider der Berliner Zeitung hatte versprochen, dieses Problem alsbald ein für allemal aus der Welt zu schaffen. Aber das war nun auch schon ein paar Tage her.
Nachdem er ungefähr siebzig E-Mails gelöscht hatte, floh er in den Flur, um sich einen Cappuccino aus dem Kaffeeautomaten zu ziehen. Als er zurück ins Zimmer kam, klingelte das Telefon. Daniel stellte den Plastikbecher aufs Fensterbrett, leckte sich den Schaum von den Lippen und nahm ab.
„Winterstein.“
„Mein Name ist Karl Munkelt. Sie haben neulich einen Artikel über diese regelmäßigen Treffen am Spittelmarkt geschrieben. Neuschwabenland.“
Daniel Wintersteins Griff um den Telefonhörer wurde fester. Seit sein Artikel über die Neuschwabenlandtreffen veröffentlicht worden war, fand er neben dem Spam auch ab und an Drohmails. Bisweilen wurden ihm auch Worte telefonisch ins Ohr geflüstert wie: Hör zu, Jude, wir kriegen dich! Oder: Du hast keene Ahnung, mit wem du dich hier anlechst. Nich mehr lange und Leute deines Schlachs werden janz einfach platt jemacht. Vastehste, platt jemacht.
Die Berliner rechte Szene war aufmerksam geworden und versuchte nun, ihn einzuschüchtern. Aber er ließ sich natürlich nicht einschüchtern. Winterstein hatte Anzeige wegen Bedrohung, Volksverhetzung und Antisemitismus gegen Unbekannt erstattet. Sein Telefon war ausgetauscht worden und besaß jetzt eine Mitschnitttaste. Sobald ihm ein Anruf merkwürdig vorkam, schnitt er ihn mit. Wenngleich sich bislang keiner der Drohanrufer bei dem Thema Neuschwabenland mit seinem Namen gemeldet hatte, drückte er automatisch auf diese Taste. Dann sprach er weiter.
„Wie lautete noch einmal Ihr Name?“
„Munkelt. Karl Munkelt.“
„Okay, Herr Munkelt. Worum geht es?“
Daniel Winterstein hörte einen lauten Seufzer im Ohr.
„Sie haben in Ihrem Artikel mehrere Namen erwähnt.“
„Stimmt. Wenn ich mich recht erinnere, war Ihrer nicht dabei.“
„Nein, nein. Darum geht es mir nicht. Nun ja. Wissen Sie, ich betreibe einen Laden im Prenzlauer Berg, Ramsch & Plunder , und ich suche nach verkäuflichen Dingen, beispielsweise bei Sperrmüllaktionen…“
„Sie sind der Besitzer von Ramsch & Plunder ?“
„Ja. Wieso?“
„Weil ich vor ein paar Wochen eine Tasche bei Ihnen gekauft habe. Diese Tasche ist mittlerweile zu meiner Lieblingstasche geworden.“
„Ach, das freut mich.“
Winterstein sah zu seiner Hebammentasche und lächelte.
„Hallo?“
„Ja, ich bin noch dran.“
„Ich denke, ich hätte da etwas für Sie. Ich meine Material, wenn Sie verstehen…“
Winterstein ging zum Fenster, griff nach dem Plastikbecher auf dem Fensterbrett und nahm einen Schluck Cappuccino. Im Grunde waren der Kaffeeautomat und dessen Produkte eine Zumutung. Der Cappuccino schmeckte wie gezuckertes heißes Wasser mit Kaffeeweißer. Wie sehr vermisste er manchmal seinen schäbigen Wasserkocher und frisches Kaffeepulver. Die Wasserkocherzeiten waren allerdings unwiederbringlich Geschichte. Bei der letzten Brandschutzinspektion waren sie als gefährlich eingestuft und kurz darauf aus dem gesamten Verlagsgebäude entfernt worden.
Der Artikel über die Neuschwabenland- Treffen am Spittelmarkt hatte ihm einige Unannehmlichkeiten bereitet. Insgeheim hatte Winterstein sogar damit gerechnet. Schließlich sprach er in seinem Artikel den Akteuren ihre geistige Zurechnungsfähigkeit ab. Graf von Wiltberg fiel ihm ein. Dieser Typ war nicht koscher, soviel stand fest. Nur in welchem Zusammenhang von Wiltberg mit diesen Spinnern agierte, darüber war sich Winterstein noch nicht im Klaren. Aber in einem war er sich sicher: Freiherr Graf Götz von Wiltberg war gewiss nicht nur das, wofür er sich so gern feiern ließ. Der Mäzen und Förderer der Uckermark.
Die Untersuchungen zum Tod des siebzehnjährigen Mädchens waren immer noch nicht abgeschlossen. Allerdings ließ die Polizei durchblicken, dass es sich wahrscheinlich bei der Tat um einen Suizid gehandelt hatte.
All dies ging ihm durch den Kopf, während er an dem Plastikbecher schlechten Cappuccinos nippte, Karl Munkelt zuhörte und sich gleichzeitig fragte, was dieser Trödel-Mensch ihm für Material verkaufen wollte. Er wagte es zwar kaum zu hoffen, aber vielleicht öffnete sich ihm eine neue Tür. Obwohl er es sich nur ungern eingestand: Im Moment trat er ein bisschen auf der Stelle.
„Um was für Material handelt es sich denn?“ Winterstein sah aus dem Fenster und wartete gespannt.
„Nun ja… Es geht um eine Schweinerei.“ Karl Munkelt hielt kurz inne, als würde er sich für eine alberne Bemerkung schämen.
„Eine Schweinerei? Ist für Schweinereien nicht die Polizei zuständig?“
„Hören Sie, ich habe in den letzten Tagen einiges durchgemacht. Wie wär´s, wenn Sie einfach mal herkommen und sich das Zeugs selber anschauen? Ich will nämlich damit nichts mehr zu tun haben. Entweder Sie und Ihre Zeitung kaufen oder lassen es bleiben. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“ Karl Munkelt legte verärgert auf und Daniel Winterstein kratzte sich verlegen die Stirn. Was ist nur in mich gefahren? Dachte er. Warum war ich so schnippig und unprofessionell? Das Telefon klingelte abermals.
„Winterstein.“
„Hier ist Munkelt. Tut mir leid.“ Daniel atmete erleichtert auf.
„Ich glaube, ich bin derjenige, der sich zu entschuldigen hat“, sagte er sofort, „offen gestanden habe ich auch einiges erlebt, seit dieser Artikel erschienen ist.“
„Sie wurden bedroht, richtig?“
„Kann man so sagen.“
Munkelt machte ein Geräusch, als würde er mit der Zunge schnalzen.
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