1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Karl rieb sich benommen die faustgroße Beule an seinem Kopf.
Woraus bestehen eigentlich Beulen? Fragte er sich kurz, dann ging er ins Bad. Nach dem Pinkeln bespritzte Karl ungefähr zwanzig Mal sein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann begab er sich zurück ins Wohnzimmer und bedachte die Whiskyflasche und das halb volle Glas davor mit einem missbilligenden Blick.
Der ungefähr sechzig Jahre alte Mann auf dem Bildschirm seines Fernsehers war nach wie vor erstarrt.
Karl nahm Flasche und Glas und ging in die Küche. Er schüttete den Inhalt des Glases über dem Spülbecken zurück in die Flasche. Dann verstöpselte er sie und stellte sie ins Regal. Während der Kaffee durchlief, stand er am Fenster und betrachtete das kleine Stück Himmel über den Häusern der Schönhauser Allee, den er von seiner Etage aus sehen konnte.
Mann, dachte er, du bist ein verdammter Glückspilz, da haben bestimmt gleich mehrere Schutzengel Überstunden gemacht. Er überlegte kurz, die Polizei zu rufen, entschied sich aber dagegen.
Der Kaffee war durchgelaufen, und Karl trank ein paar gierige Schlucke. Zurück im Wohnzimmer drückte er die Play taste der Fernbedienung.
Der Mann begann zu sprechen. Karl musste schlucken.
Zunächst möchte ich Ihnen gratulieren. Denn sollten Sie mich jetzt sehen, haben Sie überlebt. In dieser Stange befand sich tatsächlich TNT.
Der Mann lächelte süffisant und verzog das Gesicht zu einer spöttischen Maske. Karl bedauerte einen Moment, den Whisky zurückgestellt zu haben, denn der Schauder, der ihm jetzt den Rücken herunterlief, war eine Potenzierung von American Stafford, weißes Rauschen und Dynamitstange. Der Schluck Kaffee, den er mit zittriger Hand versuchte zu trinken, lief ihm heiß über das Kinn und tropfte auf den Tisch.
Karl wischte die Pfütze mit seinem Hemdsärmel auf. Inzwischen war er hoch konzentriert.
Aber , fuhr der Mann im Fernseher fort, glauben Sie nicht, dass Sie jetzt in Sicherheit sind. Ich zeige Ihnen jetzt eine Realität, die Ihnen nicht gefallen wird. Das, was sie jetzt sehen werden, sind Aufzeichnungen von geheimen Treffen… und eine riesige Schweinerei. Ich spreche zu Ihnen nicht als Opfer, sondern als Täter. Mein Name ist Doktor Rudolph Hofmann. Ja, ich gestehe, dass ich an diesen… diesen Abscheulichkeiten beteiligt war. Sie werden mich vermutlich hassen. Das Einzige, was mir bleibt, ist um Vergebung zu bitten. Möglicherweise erscheine ich Ihnen als Feigling, als jemand, der sich seiner Verantwortung nicht zu stellen bereit ist. Das bin ich. Und doch bitte ich Sie, für mich zu beten. Denn ich bin bereits tot.
Und dann kamen die Bilder.
Milmersdorf war ein schmuckloses Kaff, ungefähr 60 Kilometer nördlich von Berlin gelegen, zerschnitten von der B 109 und so gewöhnlich wie Tausende andere Dörfer. In der Mitte des Dorfes fielen sofort die grob sanierten Plattenbauwohnklötze auf. Ansonsten bestand der Ort aus einer Tankstelle, einem Holzgroßhandel mit Sägewerk, einer Filiale der Uckermärkischen Sparkasse, einem Supermarkt und den typischen märkischen Höfen und Häuschen.
Benjamin Krause hatte seit einer Dreiviertelstunde seinen Bestimmungsort erreicht und mittlerweile die Reste seiner fünften Kippe aus dem heruntergekurbelten Fenster geschnippt. Sein Blick wanderte zum hundertsten Male die 109 entlang. In beide Richtungen. Er wusste weder, von wo seine Kontaktperson kam, noch wie sie aussah, noch welches Auto sie fuhr. Das einzige, was er wusste, war: dass es ein Er war. Nun ja.
Wie ihm angewiesen worden war, hatte Benjamin einen geschlossenen VW-Caddy bei Robben & Wientjes in Berlin gemietet, das Logo sollte deutlich an der Karosserie sichtbar sein, und war hierher gefahren.
Und nun?
Nun starrte er abwechselnd auf seine Uhr und die Bundesstraße hoch und runter. Die Zeit schleppte sich zäh dahin. Noch immer blieben ihm 35 Minuten Warten bis zu der Verabredung, die sein Leben auf den Kopf stellen sollte.
Bleib ruhig, sagte sich Benjamin Krause – und fummelte fahrig nach der nächsten Zigarette.
Mit den Radiosendern in dieser Region kannte er sich nicht aus, also drückte er solange den Sendersuchlauf, bis Musik erklang, die seinen Ansprüchen genügte. Auf einem der vielen Sender lief gerade Feel von Robbie Williams, und Benjamin ließ die Musik laufen. Dieser Song entsprach seinen Ansprüchen. Sehr sogar. Benjamin drehte das Radio lauter.
Gerade als er ein wenig entspannt mitsingen wollte, hielt plötzlich ein Wagen neben seinem Robben & Wientjes Caddy.
Es war ein schwarzer 5er BMW mit getönten Scheiben.
Um möglichst ruhig zu wirken, schaltete er das Radio aus und hielt den Atem an.
Der Wagen war aus der entgegengesetzten Richtung gekommen. Die beiden Fahrzeuge standen nebeneinander und der Fahrer saß jetzt quasi neben ihm.
Die getönte Scheibe senkte sich und ein Mann stülpte seinen Ellenbogen heraus.
Benjamin Krause wagte nicht zu atmen, sondern reagierte nur mit einem sprachlosen Zwinkern.
Hinter dem Ellenbogen erschien ein Gesicht. Es war viel jünger, als es Benjamin erwartet hätte. Das Gesicht eines jungen Mannes in seinem Alter, der irgendwie genauso nervös wirkte wie er selbst es war.
„Bist du Benjamin Krause?“
„Ja.“
„Ich habe den Auftrag, dir etwas zu übergeben.“
„Hm.“
Sie musterten sich gegenseitig. Keiner von Beiden hatte eine Ahnung, welche Rolle der andere spielte. Also taten sie so, als wäre die eigene Rolle die Wichtigere.
Gerade als Benjamin Krause eine Frage stellen wollte, randalierte sein Handy in der Hosentasche. Mechanisch zog er sein Sony Ericsson aus der Tasche und klappte es auf.
„Ha, ich wusste, dass du nicht zu Hause bist und dich irgendwo rumtreibst“, ertönte es im Hörer vorwurfsvoll. Corinna Baumgart. Benjamin legte seine Stirn in Falten.
„Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung empfehlen die Ärzte sogar ausgiebige Spaziergänge“, konterte er und schielte gleichzeitig hinüber zu dem jungen Mann im schwarzen BMW.
„Sekunde“, sagte er schnell in dessen Richtung, und der junge Mann nickte als Antwort.
„Eine was?“, fragte unterdessen Corinna. Bei einer Frau wie ihr trafen alle Blondinen-Witze irgendwie zu, als wären sie reale Erzählungen.
„Corinna, ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Warum rufst du mich an?“
Benjamin hatte sich sofort geärgert, als er den Anruf entgegen genommen hatte, nun schalt er sich einen unverbesserlichen Blödmann.
„Mandy hatte einen ziemlich furchtbaren Durchfall heute Nacht. Deswegen rufe ich an… Möglicherweise muss sie in die Klinik.“ Ihr kurzes darauf folgendes Schweigen sollte auf theatralische Weise dieses Unglück dramatisieren und ihren Vorwurf dadurch bekräftigen.
„Oh“, entfuhr es Benjamin Krause. Mandy war eine siebzehnjährige Schwerstmehrfachbehinderte aus der Mäusegruppe , die weder sprechen noch laufen konnte. Ein Mensch, der nur durch seine Augen sprach. Hübsch, trotz ihrer schweren Behinderung. „Oh“, sagte er noch einmal. „Das tut mir leid. Oje…“ Sein Bedauern war aufrichtig, wenngleich nicht ganz selbstlos.
„Ich wollte dir nur sagen, dass dies eine schwere Belastung darstellt, und wir dich hier brauchen, trotz deines postdramatischen Belastungsdingsbums.“
„Natürlich, Corinna. Selbst bei hohem Fieber würde ich kommen.“
„Gut.“
„Grüße alle von mir, besonders Herrn Jungmann.“
Ein bisschen Zynismus tat ihm jetzt gut. Corinna verstand nicht.
„Wieso Herrn Jungmann?“, fragte sie.
„Egal. Bis später.“ Benjamin Krause klappte das Handy zu und schob es zurück in seine Hosentasche. Sein Gegenüber grinste.
„Wer war´n das?“
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