Sie hat es zunächst auf die Porreestreifen abgesehen. Weil berechtigte Hoffnung, dass damit der Rüben-Geschmack der Suppe abgemildert wird. Herdplatte anschalten, Kochtopf aus dem Regal nehmen. Etwas Öl eingießen und den Porree andünsten. Derweil das restliche Gemüse in Scheiben schneiden. Jetzt wird Marion schwindelig, das ist der Kreislauf. Doch Ines ist wie immer gelassen. Erst einmal durchatmen, meine Liebe. Nimm dir ein Glas Wasser, so schnell verhungerst du nicht. Und dann nach einer Weile: Warum übersiedelst du nicht nach Rom und machst dort dein Doktorat?
Marion wird nachdenklich. Vor zwei Monaten hat sie ihre Diplomarbeit abgegeben. Über fraktale Geometrien von Naturfaserfibrillen, speziell der Flachsfaser. Ihre Forschung wurde im Fachdiskurs gut aufgenommen. Erst vor wenigen Tagen hat sie eine schmeichelhafte Einladung erhalten. Von einem gewissen Grasso… Professor Giovanni Grasso von der Uni in Rom. Sie könnte sich spontan in den Zug setzen und dem Herrn einen Besuch abstatten. Vielleicht würde er ihr helfen, ihre Forschungen weiterzuführen?
Rom, das warme Klima, an einer richtigen Uni studieren… das klang nach einer verlockenden Idee. Etwas Geld hat sie sich in den letzten Jahren zusammen gespart. Vielleicht könnte sie den Krawitzerhof als zusätzliche Einnahmequelle vermieten? Sie wird ihre Nachbarin, Frau Pumhösl, diesbezüglich ansprechen. Und ihr dabei gleich die Hausschlüssel übergeben. Jemand müsste sich um die Katze kümmern. Und einen Intensivkurs in Italienisch sollte sie ablegen, bevor das Herbstsemester losgeht. Marion ist jetzt ganz aufgeregt. Und endlich ist auch ihre Suppe fertig.
Derweil braust Humbold durch die Landschaft. Er ist nervös. Die Kathi schimpft immer, wenn er zu spät kommt. Weil Ordnung muss sein. Und von nichts kommt nichts. Sie hat stets einen passenden Spruch auf Lager, um seine Versäumnisse zu kommentieren. Kathi ist nämlich eine recht Dominante. Aber fesch, keine Frage. Und die Tochter vom Betriebsleiter, das darf man auch nicht vergessen.
Humbold hat für sich große Karrierepläne. Nach all den Jahren im Kinderheim unter der permanenten Kontrolle von Frau Gravensteiner möchte er auch einmal etwas zu sagen haben. Nicht nur abhängig sein von weiblicher Gnade. Chef bei Theuscher & Söhne… das würde ihm schon gefallen. Kathi hat gesagt, dass er sich keine Sorgen machen müsse. Sie hätte schon alles eingefädelt.
Auch für Kathi ist Humbold eine gute Partie. Immer dieser leicht fragende Blick in seinem hübschen Gesicht. Als wisse er nicht, was er wolle und bräuchte eine starke Hand, die ihn führt. Kein Problem für Kathi. Dazu seine gepflegte Erscheinung: breitschultrig, Sixpack,… Und die grünen Augen, die vergisst man nicht so schnell.
Die Augen hat er wohl von der Mutter geerbt. Sie soll eine aus der Dienstleistungsbranche gewesen sein. Käufliches Gewerbe, sagt Frau Gravensteiner. Und sie muss es wissen. Schließlich leitet sie das Kinderheim in Mopping, das Humbold nach der Geburt aufgenommen hat. Von der Fürsorge abgeliefert, weil so eine Mutter ist doch kein Umfeld für ein Baby. Vater gab es keinen Bestimmten, dafür viele Möglichkeiten.
Schon als Säugling war Humbold einfach zum Verlieben. So einen hübschen Kerl hat Frau Gravensteiner in ihrer Karriere noch nicht gesehen. Und jetzt kam er gerade recht. Weil Frau Eleonore Gravensteiner war nicht nur Leiterin eines mittelklassigen Kinderheims. Nicht nur zuständig für rund zweihundert Waisenkinder, für ihr pünktliches Erscheinen bei den Mahlzeiten, das ordentliche Essen mit Messer und Gabel, den Zustand der Betten und Spinde, die Erledigung der Hausaufgaben. Nein, Frau Gravensteiner war zu Höherem geboren, sie hatte eine geheime Mission! Durch beharrliche Fürsorge könne man jedes Kind der Hölle seiner Herkunft entreißen. Das war ihre These. Wichtig dafür wäre natürlich eine klare Führung, und ihre beruhte auf drei pädagogischen Grundpfeilern:
1. Höflichkeit
Ein gepflegter Umgangston, tadellose Manieren und gelebte Hilfsbereitschaft. Frau Gravensteiner duldete weder Schreiereien, Kämpfe oder sonst ein anmaßendes Benehmen unter ihren Schützlingen. Das Tragen von Verantwortung füreinander sollte früh gelernt werden. Deshalb bekam jedes Kind im Heim die Patenschaft über ein Tier übertragen: eine Katze, ein Schwein, ein Huhn, vielleicht sogar eine Kuh. Je nach Verfügbarkeit, zum Heimgelände gehörte praktischerweise ein Bauernhof. Jedes Kind wurde für den Zustand seines Paten-Tieres persönlich zur Rechenschaft gezogen. Hatte es die Fütterung vergessen, stornierte Frau Gravensteiner dem Paten-Kind umgehend die Mahlzeit.
2. Schönheit
Ein geschmackvolles Umfeld fördert tugendhafte Gedanken. Deshalb achtete Frau Gravensteiner stets auf üppige Balkonblumen im Eingangsbereich. Die Gänge des Heims waren mit Reproduktionen der wichtigsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte geschmückt, das hieß: mit Bildern der Impressionisten. Zur Schulung des ästhetischen Empfindens wurden alle Kinder dazu angehalten, am wöchentlichen Mandala-Malkurs teilzunehmen.
3. Bewegung
Wie schon der Lateiner sagt: Mens sana in corpore sano . Ein ehrgeiziges Workout für alle - speziell für die pubertierenden Burschen - war Teil des täglichen Stundenplans.
Um ihre Erziehungsmethodik durchzusetzen hielt es Frau Gravensteiner mit ihrer russischen Köchin Marija. „ Dowerjai, no prowerjai.“ Das pflegte Marija immer zu sagen, wenn sie eine letzte Kontrollrunde durch die Heimküche drehte und die Vorratskammer absperrte. Übersetzt: Vertraue, aber prüfe nach!
Weil Frau Gravensteiner selbst bloß über zwei Augen verfügte - und das war für ein Kinderheim dieser Größe deutlich zu wenig - baute sie sich über die Jahre ein hilfreiches Netzwerk unter ihren Schützlingen auf. Alle Kinder waren gleich - bis auf ein paar Ausnahmen: ihre FAK-Musikschüler. Diese durften dem wöchentlichen Freitag-Abend-Konzert in ihrer Privatwohnung lauschen.
Sollte tatsächlich jemand zur besagten Zeit an ihrer Eingangstüre horchen, würde er die sanften Klänge eines Streichorchesters hören. Freilich aus einem leeren Zimmer, denn die eigentliche FAK-Versammlung fand im hinteren Wohnbereich statt. Hier wurden die Vorkommnisse der letzten Woche diskutiert. Wer hat was gemacht oder gesagt? Auch Kleinigkeiten – feine Unstimmigkeiten oder Andeutungen - interessierten Frau Gravensteiner. Als Belohnung gab es Bonbons, und natürlich eine Extraportion Ehre. Die durfte man nicht vergessen.
Auf solche Weise konnte Frau Gravensteiner problematische Unruheherde bereits im Keim ersticken und den Frieden im Heim wahren. Ein Erfolgsrezept, das auch die Statistik bestätigte: geringere Kriminalitäts- und Selbstmordraten als in vergleichbaren Institutionen. Deshalb wurde Frau Gravensteiner die bronzene Verdienstnadel des Landes verliehen. Zehn Jahre Leitung eines zweihundert-Seelen-Heimes ist schließlich kein Vogeldreck. Doch Frau Gravensteiner wollte mehr erreichen. Viel mehr. In ihren geheimen Studien (die zu gegebener Zeit das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollten) ging es um nichts Geringeres als um die Aufzucht des perfekten Menschen .
Nun stellt sich die Frage: Was zeichnet einen solchen aus? Frau Gravensteiner machte sich die Antwort darauf nicht leicht. Gründliche Recherchen in Bibliotheken und anspruchsvolle Diskussionen (vor allem mit sich selbst). Sie warf ihre gesamte Kompetenz und Lebenserfahrung in die Waagschale, um schließlich feststellen zu können:
Der perfekte Mensch, das ist der zufriedene Mensch!
Eigentlich recht nahe liegend. Denn wer zufrieden ist, trägt Frieden in sich. Sagt schon das Wort. Und Frieden braucht die Welt am allermeisten. Nun ist es mit dem Fragenstellen wie mit dem Dragee-Keks-Essen: Hast du einmal damit angefangen, kannst du nicht mehr aufhören. Deshalb gleich die Nächste: Wie wird ein Mensch dauerhaft zufrieden? Das ist so leicht dann auch wieder nicht. Braucht man bloß sich selbst anzusehen.
Читать дальше