Es ist dunkel geworden und Marion fällt auf, dass sie Hunger hat. Ein Inspektionsgang durch das Haus offenbart eklatante Versorgungsprobleme. Sie hätte gestern nach dem Amtsarzt doch noch etwas einkaufen sollen. Gähnende Leere im Kühlschrank, nur ein paar verschrumpelte Kartoffeln in der Speisekammer.
Unter der Woche lässt sich Marion am liebsten von der Betriebsküche verpflegen. Sie mag das gemeinschaftliche Essen in großen Speisesälen. Wenn die Luft erfüllt ist von Gemurmel und Besteck-Geklappere. Selbst der typische Geruch von großen Abspeisungen nach Kohl, billigem Fett und Kartoffelpüree bedeutet Heimat für sie. Schenkt ihr Geborgenheit.
So ist es im Heim gewesen: Mahlzeiten ohne Angst. Ohne dem schleichenden Unbehagen, dass er etwas von ihr will. Auf der gedrechselten Eckbank in der Küche hat der Vater immer gesessen, und auf die Mutter gewartet. Obwohl diese schon längst nicht mehr da war. Aber das konnte er von Jahr zu Jahr weniger begreifen.
10. Kindheit am Krawitzerhof
Als Marion noch klein war, hat Oma die Küche mit Leben erfüllt. An ihre Mutter kann sie sich kaum mehr erinnern. Eine musikliebende und fröhliche Frau wäre sie gewesen. Erzählte Oma. Doch irgendwann vergeht jeder das Lachen, wenn der Mann so viel säuft. Eines Tages wäre sie mit einem Gitarristen durchgebrannt, so einem hageren John Lennon-Typ.
Danach ist Oma zu ihnen ins Haus gezogen. An ihrem bunten Haushaltskittel konnten sich Marions Kinderhände wunderbar festhalten. Auf ihren Schoß durfte sie sich flüchten, wenn der Vater getrunken hatte. Oma roch wie die Küche, nach ausgelassenem Schweinefett, Milch und frischer Hefe.
Sie war immer am Backen, Kneten und Rösten. Mit ihren Küchenerzeugnissen versorgte sie nicht nur Marion und den Vater, sondern das halbe Dorf: würziges Bauernbrot, fettige Krapfen, dampfende Striezel,… Während ihr Sohn, dieser Nichtsnutz, seinen Weltschmerz in Wein ertränkte.
Immer wieder gab es deshalb Streit. Oma zischte und fuhr mit ihrem Zeigefinger drohend durch die Luft. Als wollte sie den Vater damit aufspießen. Er saß ganz hinten im Eck und ließ den Fingertanz widerspruchslos über sich ergehen. Bis zu dem Moment, an dem es aus ihm heraus brach. Dann sauste seine Faust mit aller Wucht auf den Esstisch hernieder. Der hüpfte ein Stück weit in die Luft, und der Salzstreuer fiel mit lautem Poltern um. Vater schrie Oma ins Gesicht, dass sie jederzeit gehen konnte, wenn es ihr in seinem Haus nicht passte. Das ganze Frauen-Pack, sie würden ihn doch sowieso verlassen!
Marion mochte das nicht hören. Schnell lief sie aus dem Haus und hockte sich zum alten Zwetschkenbaum ins Gras. Presste ihre Hände gegen die Ohren, bis sie tief drinnen im Kopf etwas rauschen hörte. Es waren vielstimmige, wunderschöne Gesänge, deren Bedeutung sie nicht verstand. Wie samtig-dunkles Wasser flossen die Klänge in ihren Körper und es war so angenehm mitzusummen. Bald ließ sie ihrer Stimme freien Lauf und das Ziehen in der Brust ließ nach.
*
Es ist still geworden die Flamme ausgetreten sprachlos verwundet Ferne ist wieder fern der Spiegel verschleiert sprachlos verwundert Ich mache es wie die verstorbene Natur und lasse mich ein ums andere Mal vom frischen Frühlingsfrieden erwecken * Eines Tages war Oma tot, einfach so, ohne Vorwarnung. Gerade hatte sie noch mit dem Holzlöffel im Hollerkoch gerührt - und aus war es mit ihr. Der Vater zog seinen einzigen Anzug an und Marion ihr schönstes Kleid. So gingen sie Hand in Hand hinter dem Sarg her, den schmalen Weg zum Friedhof hinauf, und trauerten um Oma. Dahinter kamen mit etwas Abstand die Nachbarn. Und trauerten um Omas Kuchen und Striezel.
Der Vater gelobte, vom Wein abzulassen. Bald schon würden sie zusammen Urlaub machen an der Adria. Das hatte er damals schon seiner Frau versprochen. An der Adria wäre es immer schön warm und sie könnten jeden Morgen Muscheln suchen. Noch ein bisschen sparen, und dann würde er ganz sicher mit Marion hinfahren. So war der Plan. Doch der Alltag brachte den Weltschmerz zurück, und dem Weltschmerz folgte unweigerlich der Wein. Der Vater ließ sich gehen, das Anwesen verlotterte und Omas Küche wurde ein trostloser Ort.
Meist konnte Marion dem Vater ausweichen, mit seinem aufgedunsenen Gesicht und den feuchten Augen. Nach der Schule trieb sie sich in der Gegend herum, erledigte ihre Hausübungen an der Bushaltestelle. Kletterte auf Bäume oder baute sich Häuschen beim Fluss. Doch irgendwann geht jedem Tag das Sonnenlicht aus und dann brüllte in Marions Bauch ein Tiger.
Es war der Hunger, der sie nach Hause zog, hinein in die Küche. Vater saß an der Eckbank. Mit seinen blauen Latzhosen, die behaarten Unterarme auf der Tischplatte abgestützt. Der Wein war in seinen Geist eingedrungen und hatte dort ein großes Durcheinander angerichtet. Manche Gehirnbereiche schienen lahm gelegt, andere wiederum völlig falsch verdrahtet.
Marion sah ihrer Mutter ähnlich, das musste man schon zugeben. Dem Vater fiel es zunehmend schwer, die beiden auseinander zu halten. Dann schrie er Marion an. Du Luder! Wo sie die ganze Zeit gewesen wäre und dass sie ihn nie wieder verlassen dürfte. Manchmal zog er sie mit auf sein Zimmer und legte sich schwer auf sie. Doch sein Glied war welk vom vielen Alkohol. Das machte ihn rasend. An anderen Tagen kroch er winselnd am Boden umher. Bat auf Knien, dass sie ihn nicht verlassen dürfte. Sonst bliebe ihm nichts anderes übrig, als sie einzusperren. In den Erdkeller, wo es kein Fenster gab.
Wenn er dann zu schnarchen anfing, schlich sich Marion leise in die Küche zurück und suchte nach Essbarem. Manchmal fand sich ein Stück Brot oder ein Kännchen Milch oder doch noch ein Einmachglas von Oma in der Vorratskammer. Damit trat sie vors Haus und setzte sich zum Zwetschkenbaum ins Gras.
Es war nichts in ihr: keine Trauer, kein Hass, keine Ablehnung. Da war bloß ein Körper, ein Obstbaum und die Nacht, die sich langsam herabsenkte. Und manchmal legte sie sich zu den zwei Kühen auf die Weide, streichelte über ihr braunes Fell und summte leise vor sich hinein. Und die Kühe blickten sie mit ihren dunklen, großen Augen an. Mit den langen Wimpern. Mit ihren wunderbaren, ruhigen und gütigen Augen. Dann und wann raspelte eine Zunge über ihren Oberarm. Blies ihr ein Kuhatem ins Gesicht. Er roch nach Wärme und Kräutern, und der Gesang des dunklen Flusses setzte wieder ein.
*
steinalte Lebensmelodien durchmurmeln monoton meine inneren Gänge da, aufgeschreckt! kreuzt, blendet, freut sich sucht schon wieder? innehalten und fortwährend ach, zurücksinken in den entlegenen Strom aller endlosen Prozesse * Eigentlich hätten es die Nachbarn wissen müssen. Eigentlich hätte die Lehrerin etwas tun sollen oder jemand in der Gemeinde. Denn Marion sah schon eine Weile schmutzig und hungrig aus. In der Schule hatte sie kein Pausenbrot dabei. Nur Äpfel von der Obstwiese. Von der Lehrerin wurde sie einige Male ausgeschimpft, weil sie weggeworfene Essensreste aus dem Mistkübel fischte.
Und dann blieb Marion plötzlich ganz von der Schule weg. Das war in den vergangenen zwei Schuljahren noch nie vorgekommen. Aber die Leute im Dorf wollten sich nicht einmischen in fremde Angelegenheiten. „S‘hod do a jeda g‘nua z‘doa mid de eignen Soch‘n.“ Ging niemanden etwas an, was der Krawitzer-Bauer da auf seinem Hof für einen Saustall hatte.
Es waren die Kühe, die Marion retteten. Sie schrien sich die Kehle heiser, weil sie dringend gemolken werden wollten. Das war überfällig. So laut war ihr Brüllen, dass der Jäger doch kurz vorbei schaute. Er sah die prallen Euter, die hervortretenden Adern und wie die Kühe die Köpfe herumwarfen vor Schmerz.
Читать дальше