Seither lebt Marion als Gast am Krawitzerhof und genießt die Großzügigkeit ihrer Freundin. Jederzeit darf sie sich in der Küche bei den Lebensmitteln bedienen. Sie kann sich ein Schaumbad in der alten Emailwanne einlassen oder im Liegestuhl vor dem Haus faulenzen. Sogar das Bett von Ines steht ihr offen. So viel Freigiebigkeit, das ist heutzutage nicht selbstverständlich! Dafür trägt sie der Freundin den Müll hinaus, zahlt alle Rechnungen und kauft ab und zu etwas ein. Und was früher in dem Haus passierte - das ist nicht mehr ihre Angelegenheit.
Von solchen Freunden haben die allerwenigsten Menschen eine Ahnung. Oder nehmen die Sache nicht ernst. Humbold zum Beispiel, für ihn ist der Krawitzerhof noch immer Marions Haus. Gerade sitzt er in der alten Werkstatt von Marions Vater – keine zwanzig Meter entfernt - und beobachtet durch das Fenster das Rüben-Herz vor der Eingangstüre. Er war so klug, sich ein trockenes Plätzchen in der Werkstatt zu suchen und steht nicht etwa im Regen herum. Von hier aus hat er eine ausgezeichnete Sicht auf das Geschehen. Denn Humbold möchte wissen, ob Marion sein Geschenk annehmen wird.
Für die Konstruktion hat er zu Hause zwei Stunden gearbeitet. Das Gemüse mit dünn geschnittenen Streifen von Porree und ein paar Zahnstochern in Form gebracht. Ein anderer wäre an der Aufgabe zweifellos gescheitert, doch nicht Humbold mit seinen geschickten Händen. Basteln war schon damals im Heim seine Lieblingsbeschäftigung gewesen. Durfte er nur nicht allzu oft.
Noch tut sich nichts an der Hausschwelle. Das Rüben-Herz lehnt einsam an der Türe und beginnt im Regen langsam die Fassung zu verlieren. Trübsinnig malt Humbold mit dem Zeigefinger Comicfiguren in den Staub der alten Werkbank. Es riecht muffig. Seit Jahren hat sich hier nichts mehr bewegt. Außer den Spinnen, die veranstalteten regelrechte Netzbau-Wettbewerbe. Quer durch den Raum spannten sie ihre Fäden und mit der Zeit wurden staubige Hängematten daraus.
Aus Langeweile beginnt Humbold Belastungstests mit den Luft-Bauwerken durchzuführen. Er sammelt kleine Nägel, Holzspäne und was er sonst noch am Boden finden kann. Ergebnis der Experimente: Spinnen bauen auch nicht für die Ewigkeit. Jetzt stören ihn die baumelnden Netzfetzen. Die Überreste seiner Versuche sind wahrlich keine Augenweide und Humbold ist ein reinlicher Bursche. Er schnappt sich den Besen, um ein bisschen sauber zu machen. Dabei will er gleich nachschauen, was sich sonst noch unter der dicken Staubschicht verbirgt.
Doch der Staub hat seinen eigenen Willen. Der lässt sich nicht einfach in eine Richtung kehren, sondern dreht lieber ein paar Ehrenrunden durch die Luft. Gegen alle Gesetze der Schwerkraft. Senkt sich dann gemütlich dort nieder, wo es ihm gerade passt. Jetzt hat Humbold aber Glück, dass er zu Hause seinen Büroanzug gegen ein sportlicheres Gewand getauscht hat. Schon bedeckt der Staub nicht nur den Boden, sondern auch seine Schultern, die Arme, Beine, Schuhe und das frisch geschnittene Haar. Ja, da gefällt es dem Staub besonders. Das muss an dem Haargel liegen, das Humbold so reichlich verwendet.
Wo viel Staub, da auch viel Husten. Beinahe Erstickungsanfälle. Deshalb Schluss mit der Deckung. Humbold reißt die Türe weit auf und taumelt hinaus in den Regen. Keucht dabei wie nach einem Hundert-Meter-Sprint. Luft! Er atmet ein paar Mal gut durch. Langsam senkt sich der Staubnebel in der Werkstatt und gibt den Blick auf allerlei Interessantes frei: unzählige Werkzeuge an der Wand. Große und kleine, spitze und breite, mit Holzgriff oder mit Plastik hinten dran. Zum Hämmern, Sägen, Schleifen und Bohren, zum Schneiden oder Kleben. Alles fein säuberlich sortiert von Marions verstorbenem Vater.
Anfangs ist es nur eine kleine Unruhe, die Humbold bei diesem Anblick befällt. Ein zartes Pulsieren im Rumpf, etwa in Zwerchfell-Höhe. Er greift sich einen Hammer, fühlt den gerippten Griff in seiner Hand. Das Ziehen wird stärker, gleicht jetzt mehr einem Brodeln. Als hätte Humbold eine Miniatursonne verschluckt. Ihre Eruptionen setzen weitere Gebiete in Brand. In seinem Becken beginnt es zu rumoren. Das ist die Leidenschaft, die Humbold da einfährt. Ausgelöst durch einen Hammer, der so wunderbar in der Hand liegt. Als wäre er ein Teil seines Körpers. Als wäre er schon mit ihm geboren worden.
Bei Humbold ist etwas im Gange, das er nicht mehr stoppen kann. Er streicht mit den Fingern über die Werkzeugwand. Über Schraubenzieher, Inbus- und Ringschlüssel. Er dreht am quietschenden Schraubstock, berührt zart die Bohrmaschine, fühlt das Gewicht der Zangen und Feilen. Wühlt in den Behältern mit den Nägeln, Schrauben und Dübeln. Lässt die Luftblase in der Wasserwaage von einer Seite zur anderen tanzen. Prüft die Schärfe der Zähne von Stich- und Feinsäge. Klappt den Zollstock aus und wieder ein. Aus und wieder ein.
Alles ganz staubig, Humbold und das Werkzeug. Nur seine Augen, die haben einen Glanz bekommen. Das ist die reine Freude! Mit Fug und Recht kann man sagen: Humbold ist im Siebenten Himmel angelangt. Mitten in dieser staubigen Werkstatt. Er beginnt sich zu drehen. Immer schneller, wie es die kleinen Kinder tun. Wie schön ist die Welt! So könnte er bis in alle Ewigkeit weiter machen. Sich drehen und drehen…
Plötzlich piepst es irgendwo. Es hört nicht auf, wie lästig. Das ist der Wecker seiner neuen Sportuhr. Den hat er sich gestellt, um das Rendezvous nicht zu verpassen. Mit der Kathi um neunzehn Uhr beim Kohlbauerwirten. Ach, das kommt ihm gar nicht gelegen! Gerade jetzt, wo er doch schauen wollte, ob die Marion nicht doch…
Hastig wischt sich Humbold den Staub vom Uhrblatt. Die Kathi mag es gar nicht, wenn er zu spät kommt. Er schließt die Werkstatttüre und läuft im Regen zu seinem Wagen. Gib Gas, Humbold! Dann geht es sich vielleicht noch aus. So ist das mit Momenten der Verzückung: Sie scheinen endlos, und sind dann doch ganz schnell vorbei.
Von der Dramatik vor der Haustüre hat Marion wiederum nichts mitbekommen. Sie sitzt mit Ines auf dem Sofa und hält Kriegsrat. Eins ist den beiden klar: Humbold ist ein sturer Esel. Und es wird nicht immer einen rettenden Blumentopf in Reichweite geben. Ein Ortswechsel wäre also angebracht. Außerdem träumt Marion seit langem davon, in einer großen Stadt zu studieren. Auf einer richtigen Uni, mit Fachbibliothek und allem Drum und Dran. Aber wo und wie? Vom vielen Grübeln schwirrt ihr der Kopf. Dann hört sie ihn wieder singen, den schwarzen Fluss.
*
Mittendrin im Wirklichkeitsrausch formt sich dein Schicksal die Reihe deiner Ichs werdend und geworden wie ein Mantel um dich Wo findet sich dein gut-gutes Leben? auf den vorhersehbaren Wegen oder querfeldein? Verwirf deine Pläne bekräftige deine Absicht lass dein Sehnen bildlos sein und schiebe dich vorwärts ins Unkennbare So gebärst du dich aus dir selbst heraus als Lokführer und Weichenstellerin ohne Ziel und Zeitplan Der Weg zeigt sich rhythmisch und erstaunlich er liebt das Närrische, die Irrwege des Schönen die zarten Gespinste zwischen den Geschöpfen Wahrheit ist wohl in jeder Raumrichtung zu finden wenn du ihr weit genug folgst * Beim „ Verwirf deine Pläne “ hält es Marion nicht mehr aus. Da kommt etwas aus ihr heraus, eine Stimme so dunkel und leidenschaftlich wie die Gesänge des Styx . In der Öffentlichkeit hält sie das hübsch geheim. Weil Singen ist Privatsache. Viel zu intim und deshalb gefährlich. Aber hier im Haus der Freundin darf sie. Hier ist sie geschützt vor unliebsamen Zuhörern.
Marion richtet sich auf, schließt die Augen und leiht dem Geraune des dunklen Flusses ihre Stimme. Feine Klanggespinste steigen zur Decke. Sinken dann sanft in den Ecken des Raumes nieder. Die Klänge schwellen an. Oszillieren zwischen Sofa und Küchentüre. Durchdringen die Polsterbezüge. Schwingen mit dem Pendel von Großvaters Uhr. Malen Landschaften auf die Zimmerwände.
Читать дальше