Sie bekam eine Stelle in der Buchhaltung, nachdem sie dem Personalverantwortlichen ihre Rechenkünste demonstriert hatte. Gleich am ersten Arbeitstag in der neuen Firma lief ihr Humbold über den Weg. Du auch hier? Was für eine Überraschung! Sie tauschten Neuigkeiten aus, erinnerten sich an vergangene Zeiten. Lachten über dieses und jenes aus der gemeinsamen Heimzeit. Plötzlich seine Hand auf ihrem Oberarm. Früher hatten sie sich oft angefasst, das war gar kein Problem gewesen. Doch jetzt war es anders. Seine Berührung ging ihr bis an die Knochen. Wie ein Schiffbrüchiger an seinem Holzbalken schien er sich an ihr festzuhalten.
In den kommenden Wochen tänzelte Humbold ständig um sie herum. Nahm ihr mit seinen Komplimenten die Luft zum Atmen. Ganz offensichtlich sah er in ihr etwas, was sie nicht erfüllen konnte. Marion fragte Ines um Rat: grau-beige Kleider anziehen, Frisur mit der Nagelschere nacharbeiten, ganz viel Knoblauch essen.
Bloß ließ sich Humbold von diesen Hausmitteln nicht abschrecken. Im Gegenteil, er verstärkte seine Bemühungen. Stand im Aufzug unnötig nahe, Schulter an Schulter. Bis Marion nur mehr die Treppe benutzte. Kam in der Kantine immer an ihrem Tisch, auch wenn andere frei waren. Warf bedeutungsschwangere Blicke. Marion fühlte sich schon wie ein eingesperrtes Tier. Gerade jetzt konnte sie keine zusätzlichen Belastungen gebrauchen. Weil sie sich nach Arbeitsschluss einen lang gehegten Wunsch erfüllte: ein Mathematik-Fernstudium.
Einige Monate später kam überraschend die Beförderung. Herr Bosch begleitete Marion zu ihrem neuen Arbeitsplatz im ersten Stock. Hier keine Großraumbüros, sondern richtige Zweier-Zimmer mit Blick über die Produktionsanlage. Der Betriebsleiter gratulierte seiner Mitarbeiterin zu den hervorragenden Leistungen für die Firma. Sie wäre wahrlich eine Zahlenjongleurin.
Ein bisschen rot wurde Marion schon dabei. Was für ein Tag, was für ein Triumph! Bis ihr neuer Zimmerkollege zur Türe herein kam, und mit ihm die Ernüchterung. Humbold, breitbeinig und mit seinem typischen Grinsen. Ließ sich in den Stuhl ihr gegenüber fallen. Und Marion verstand die Welt nicht mehr: Humbold arbeitete doch in der Materialbeschaffung und sie in der Buchhaltung. Wozu ein gemeinsamer Raum? Das passte überhaupt nicht zusammen.
Die ersten Wochen im neuen Zimmer gestalteten sich wider Erwarten angenehm. Jeder verrichtete seine Arbeit, kurze Besprechungen über berufliche Themen kein Problem. Marion entspannte sich zusehends. Hatte selbst keine Lust mehr auf diese beige-grauen Kleider. Und lachen konnte sie auch. Wenn Humbold das bloß nicht falsch verstand!
Dann nahte die Weihnachtsfeier. Zur allgemeinen Belustigung sollte das Betriebspersonal ein Krippenspiel aufführen. Humbold musste unbedingt mit auf der Bühne sein, das verlangte die weibliche Belegschaft. Er sollte den schönen Weisen aus dem Morgenland geben und die Damen stritten sich darum, welche von ihnen die schwarze Paste in seinem Gesicht verteilen durfte. Für Marion hatten sie die Rolle des Esels hinter der Krippe ausgewählt. Kleine Vergeltungsaktion, weil neidisch auf das gemeinsame Arbeitszimmer.
Prinzipiell galt es als Ehre, für die Aufführung ausgewählt zu werden. Marion konnte also schlecht ablehnen und beschloss, ihren Esel zu stehen. Doch jeder, der schon einmal eine Weihnachtsfeier in so einem Eselkostüm verbracht hat weiß, wie heiß es da drinnen auf Dauer wird. Unter dem Polyester-Fell lief ihr der Schweiß in Strömen hinunter.
Kein Bedauern der Kolleginnen, das war nämlich genau ihr Plan. Erstens sah Marion nach kürzester Zeit völlig devastiert aus. Und zweitens: Wer solcherart schwitzt, wird viel trinken müssen. Ergibt unvermeidlichen Blasendruck. Als es bei Marion soweit war, versammelten sich die Kolleginnen vor der Damen-Toilette und versperrten ihr kichernd den Zugang. Sorry, es heißt der Esel und nicht etwa die !
Was blieb Marion schon großartig übrig in ihrer Not? Also schnell hinein zu den Herren. Dass dort gerade Humbold stand und sich erleichterte, machte die Sache nicht einfacher. Er, wie gesagt, ein ganzer Mann. Nur hätte er sich Marion gerne in einem passenderen Ambiente präsentiert. Mit Kerzenschein und klassischer Musik zum Beispiel - aber sicher nicht vor der beige gekachelten Urinal-Wand im Landgasthof „Zum Schwarzen Raben“ .
Bedenke auch, dass Marion bereits seit über einem Jahr wieder im Lande war. Und keiner seiner zahlreichen Annäherungsversuche ist bislang erfolgreich gewesen. Ein frustrierendes Ergebnis. Dass diese Beziehungsdinge immer so schwierig sein mussten… Lieber Humbold, ist man versucht zu sagen, so schlimm kann es für dich nicht gewesen sein. Wenn man dem Gemunkel im Büro trauen darf, hast du dir die Warterei versüßt. Anwärterinnen aus der weiblichen Belegschaft ohne Ende, und nicht zu vergessen deine Verlobte.
Doch zurück zu den Geschehnissen vor der Toilette im „Schwarzen Raben“ . Dort amüsierte sich eine Traube weihnachtlich angeheiterter Kolleginnen. Plötzlich seltsame Geräusche aus dem Inneren. Die Damen riefen nach dem Betriebsleiter. Er sollte für Recht und Ordnung sorgen, wozu hatte man sonst einen Chef.
Unter Gejohle schoben sie Herrn Bosch durch die Türe in die Sanitäranlage. Dort bot sich dem Armen eine delikate Situation: Marion im Eselkostüm, an die Hinterwand gedrückt und wild um sich schlagend. Davor Humbold, verzweifelt an ihrem Reißverschluss fingernd. Dieser offensichtlich verklemmt, also der Reißverschluss. Wahrscheinlich ein Billig-Import aus China. Wenn der Zipp schon nach einer einzigen Krippenaufführung den Geist aufgibt, kann das nur Ramsch sein. Andererseits auch ganz praktisch: das Eselkostüm als Ganz-Körper-Kondom.
Herr Bosch zögerte. Wünschte sich spontan nach Hause in seinen Lieblingsfauteuil vor dem Kachelofen. Die Füße ein bisschen hoch lagern, den Abend leise ausklingen lassen. Aber das spielte es jetzt nicht, da war nichts zu machen. Herr Bosch fasste sich ein Herz und setzte ein paar Schritte in Richtung Raummitte.
Das Klappern der Ledersohlen hallte von den gefliesten Wänden wider und Humbold fuhr herum. Ließ seine Arme sinken. Erkannte im Bruchteil einer Sekunde die Optik, in die er sich hinein manövriert hatte. Noch dazu vor seinem Schwiegervater in spe. Ein Gedanke stand ihm glasklar vor Augen: rascher Abgang. Ein Mann muss wissen, wann seine Zeit gekommen ist.
Inzwischen nützte Marion die Gelegenheit und verschwand in einer der Kabinen. Den Geräuschen nach zu urteilen schaffte sie es, sich mit Brachialgewalt aus den Zwängen ihres Reißverschlusses zu befreien. Es folgte ein erleichterndes Plätschern… Blieb noch Herr Bosch übrig, alleine mitten in der WC-Anlage.
Im Hintergrund tropfte ein Wasserhahn, dazu die gedämpften Polkaklänge aus dem Veranstaltungssaal. Wie ein einsamer Ozeandampfer kam sich der Betriebsleiter jetzt vor, wie ein winziger Punkt auf dem endlosen Horizont. Von fern das Tuten der anderen Schiffe. Dazwischen Dunkelheit, Fremdheit und Schweigen. Ein Nichtverstandenwerden, ein Nichtverstehen…
Regungslos verharrte Herr Bosch in der Raummitte. Längst war Marion aus ihrer Kabine gehuscht und an ihm vorbei durch die Türe verschwunden. Nichts denken, nichts tun… Das kann manchmal so erleichternd sein. Schließlich entschloss er sich doch für das Naheliegende. Wenn er denn schon einmal hier war.
Tiefster Winter war ausgebrochen zwischen Marion und Humbold. Eigentlich sehr passend zur Jahreszeit. Bei nächster Gelegenheit suchte Marion den Betriebsleiter auf. Das Gespräch war ihr peinlich. Einen Arbeitsplatz in einem anderen Zimmer hätte sie gerne. Wegen dieser Esel-Episode. Auch Herrn Bosch ging die Sache auf die Nerven. Humbold war schließlich der Verlobte seiner Tochter Kathi. Seine Frau Grete und seine Tochter setzten beide große Stücke auf ihn. Sahen ihn bereits als künftigen Betriebsleiter.
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